Königin für neun Tage
darunter Beth, in einen unbequemen Holzkarren quetschen, der an einem neblig-grauen Morgen aufbrach und über schlecht befestigte Straßen rumpelte. Der meilenlange Zug bestand aus rund zweitausend Menschen, auch Lord Thomas Fenton und Sir Norman Powderham waren unter ihnen. Seit dem verhängnisvollen Tag des Turniers war Antonia ihrem Vater nur einmal begegnet. Drohend hatte er seine imposante Gestalt vor ihr aufgebaut, aus seinen Augen sprühte blanker Hass. Mit einer Hand umklammerte er Antonias Oberarm so fest, dass dort Tage später noch blaue Male zu sehen waren.
»Du hast es also geschafft, deinen erbärmlichen Hals zu retten. Stehst jetzt unter dem Schutz der Königin, aber ihr Einfluss wird nicht ewig dauern. Der Tag wird kommen, an dem du für deinen schändlichen Betrug bezahlen wirst!«
Antonia zweifelte keinen Augenblick am Ernst seiner Worte, und sie ging ihm aus dem Weg, soweit das möglich war.
Mehr als der Hass ihres Vaters verletzte Antonia die Missachtung von Norman Powderham. Er schien sie restlos aus seinem Gedächtnis gestrichen zu haben, denn er behandelte sie wie Luft. Selbst als sie sich einmal in einem engen Gang des Palastes begegneten und sich dabei so nahe kamen, dass Sir Norman ihre Röcke streifte, blickten seine Augen durch sie hindurch, als wäre sie aus Glas. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht. Einmal hatte Antonia es gewagt, ihn anzusprechen, einen Versuch der Entschuldigung anzubringen, aber Norman war einfach weitergegangen und hatte sie keines Blickes gewürdigt.
Die Verletzung an ihrer Schulter war gut verheilt, nur noch eine fingerdicke Narbe zeugte von der Wunde. In den letzten Wochen hatte Beth versucht, Antonia das Nähen beizubringen. Entsetzt hatte die Kammerfrau die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als Antonia gestand, dass sie keine Erfahrung im Umgang mit Nadel und Faden hatte – und leider auch kein Geschick. Sosehr sie sich auch bemühte – das Stück Stoff verwandelte sich nach kurzer Zeit in einen schmuddeligen Lumpen, der Faden verknotete sich, und es verging kein Tag, an dem sie sich nicht in den Finger stach und dicke Blutstropfen die Arbeit zunichte machten.
Frustriert hatte Beth mit den Augen gerollt. »Du meine Güte, wie wollt Ihr jemals einen Mann finden, wenn Ihr nicht nähen könnt?«
»Ich bin noch viel zu jung zum Heiraten. Außerdem habe ich nicht vor, mein Leben jemals in die Hände eines Mannes zu geben«, hatte Antonia bitter entgegnet.
»Wartet ab, bis die Liebe Euer Herz berührt, dann werdet Ihr Eure Vorsätze schnell vergessen. So furchtbar es ist, dass Euer Vater Euch verstoßen hat, so hat es doch ein Gutes: Ihr seid frei, den Mann zu ehelichen, dem Euer Herz gehört. Mit Euch wird man keine politischen Schachzüge führen.«
Traurig hatte Antonia den Kopf gesenkt. Beth hatte Recht, es gab einen Mann, der ihr Herz berührt hatte, aber diesen hatte sie auf immer und ewig verloren …
Der bleigraue Himmel verdunkelte sich bereits, als der Zug die ersten Vorstädte Londons erreichte. Überall standen Menschen an den Straßenrändern, um den Hofstaat zu begrüßen. Jubelrufe ertönten, obwohl der König gar nicht unter ihnen weilte. Der Palast von Whitehall lag außerhalb der Stadtmauern, in Westminster, so dass sich die vielen Menschen, Tiere und Karren nicht durch die engen Tore und schmalen Gassen zwängen mussten. Der Palast, einst die Residenz des Erzbischofs von York, trug früher den Namen York Place. Auch diese Anlage hatte Kardinal Wolsey um-und ausbauen lassen, und der König hatte den Palast nach Wolseys Sturz zur königlichen Residenz erweitern lassen und ihr aufgrund der hellen Mauern einen neuen Namen gegeben. Seitdem war Whitehall des Königs liebstes Schloss. Einst war es Greenwich gewesen, aber seitdem Anne Boleyn in den Räumen gelebt und gewirkt hatte, war der König der Meinung, Greenwich sei von bösen Kräften und schlechten Schwingungen durchsetzt, und er hielt sich nur noch dort auf, wenn es nicht anders ging.
Die königliche Barke hatte bereits an den Whitehall Stairs angelegt und wurde von Hunderten von Menschen bestaunt. Antonia verblüffte die Entscheidung des Königs, den seit Menschengedenken öffentlichen Landeplatz an der Themse nicht sperren zu lassen, so dass der Zugang zum Fluss die Bevölkerung quer durch die Schlossgründe und durch das neue Tor führte. Der Palast von Whitehall war viel kleiner als Hampton Court, und Antonia fragte sich, wo all die Menschen Unterkunft fänden. Doch die meisten
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