Königin für neun Tage
Status der Königinwitwe einnahm, von den Fenstern des Palastes zu Whitehall aus. Hunderte von Reitern und Fußvolk eskortierten den jungen Monarchen durch Londons Straßen. Edward hielt sich stolz und aufrecht im Sattel, sein Gesicht verriet keine Gefühlsregung. Neben ihm ritt der Lordprotektor. In seinem Testament hatte König Henry die Vormundschaft über seinen Sohn in die Hände von Edward Seymour gelegt, der als ältester Onkel des jungen Königs auch ein gewisses Anrecht darauf besaß. Gleich hinter dem Herzog ritt sein jüngerer Bruder Thomas Seymour, ebenfalls ein Onkel Edwards. Vor drei Tagen war er von dem neuen König zum Herzog von Sudeley ernannt worden. Die beiden Brüder konnten verschiedener nicht sein. Der Ältere war hager und dürr, mit dunklem Haar und stechenden Augen und einem Mund, der niemals lachte. Im Gegensatz dazu wirkte Thomas, obwohl er mit seinen nahezu vierzig Jahren auch nicht mehr der Jüngste war, in seiner Art und seinem Auftreten so jugendlich, als hätte er die Zwanzig kaum überschritten. Stolz saß auch er auf seinem Ross, das wallende, dichte Blondhaar fiel ihm offen auf die Schultern, und sein prachtvolles Wams wäre dem eines Königs würdig gewesen. Als sich der Zug unter dem Fenster, an dem Catherine und Antonia standen, vorbeibewegte, hob Thomas Seymour grüßend die Hand. Antonia sah, wie sich Lady Catherines Wangen mit dem Hauch einer Röte überzogen und ihre Augen zu strahlen begannen. Antonia erinnerte sich an den Klatsch, der ihr am Hof unweigerlich zugetragen worden war: Catherine und Thomas Seymour kannten sich seit vielen Jahren und waren sich einst sehr zugetan. Nachdem Catherine zum zweiten Mal Witwe wurde, warb Seymour um sie. Doch der Wunsch des Königs, Catherine selbst zu ehelichen, hatte Vorrang, und Seymour trat zurück. Er war jedoch noch immer unverheiratet und Catherine nun Witwe. Beide waren sie in einem Alter, das ihnen noch viele gemeinsame, glückliche Jahre bescheren konnte. Antonia lächelte still in sich hinein. Sie würde es der Königinwitwe gönnen, nach drei Ehen mit deutlich älteren, kranken Männern nun das Glück einer Heirat, die einzig und allein aus Liebe erfolgte, zu erleben.
Am nächsten Tag wurde Edward in Westminster Abbey gekrönt. Die ganze Stadt feierte, aus den öffentlichen Brunnen sprudelte Wein, und die Menschen sangen und tanzten auf den Straßen. Der junge König empfing im Thronsaal von Whitehall den Hof, auch Lady Catherine machte ihm ihre Aufwartung. Als sie sich jedoch vor ihm hinkniete, gebot ihr Edward, sich zu erheben.
»Ihr sollt niemals vor mir knien, liebe Stiefmutter. Ihr wart bis zum Schluss meinem Vater – Gott hab ihn selig – eine treu sorgende Gattin und uns Kindern eine liebevolle Mutter. Wenn ich etwas für Euch tun kann, lasst es mich wissen.«
Lady Catherine senkte demutsvoll den Kopf. »Ihr seid zu gütig, mein König. Ja, ich habe einen Wunsch. Ich würde mich gerne in mein Haus nach Chelsea zurückziehen und dort mit einem kleinen Gefolge leben. Erlaubt Ihr mir, mich vom Hof zu entfernen?«
Edward runzelte die Stirn, doch bevor er etwas sagen konnte, legte sich die Hand des Lordprotektors schwer auf seine Schulter.
»Es sei Euch gestattet, Mylady«, antwortete er an des Königs Stelle mit kalter Stimme.
Catherine erhob sich und zog sich dankend zurück. Später erzählte sie Antonia, die diese Szene nur aus der Ferne beobachtet und kein Wort hatte verstehen können, dass es dem Herzog ganz recht sei, wenn sie vom Hof verschwände. »Er fürchtet meinen Einfluss auf den König, denn er weiß, dass ich den Jungen wie einen eigenen Sohn liebe. Edward Seymour will die ganze Macht, und er will sie mit niemandem teilen. Selbst John Dudley ist in seinen Händen Wachs, er tut, was der Lordprotektor will. Nein, unser Platz ist nicht mehr am Hof.«
Mit bangem Herzen wagte Antonia zu fragen: »Ihr meint, dass ich Euch begleiten darf, Mylady?«
»Selbstverständlich, mein Kind. Wer sonst soll sich um dich kümmern? Ich habe da schon so eine Idee …« Sie brach ab, schmunzelte aber vergnügt. Antonia hoffte nur, dass Catherine nicht plante, sie in naher Zukunft zu verheiraten.
Einen Tag vor der geplanten Umsiedlung nach Chelsea kam es zu einem Zwischenfall, der Antonias sämtliche Hoffnungen beinahe zerstört hätte. Ohne sich anzumelden, stürmte Lord Thomas Fenton in die privaten Gemächer der Königinwitwe. »Wo ist meine Tochter?«, brüllte er und versagte Lady Catherine die notwendige
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