Königin für neun Tage
Englands nachhaltig verändert hatte.
König Henry VIII. starb in den frühen Morgenstunden des 28. Januar 1547. Er wurde fünfundfünfzig Jahre alt und hatte fast achtunddreißig Jahre lang regiert. Sein einziger legitimer Sohn Edward Tudor, gerade mal neun Jahre alt, folgte ihm auf den Thron.
Antonia begleitete die Königin in die Kapelle nach Whitehall, in der man den toten König in einem enorm großen Sarg aufgebahrt hatte. Catherine kniete nieder und betete in Ehrerbietung für ihren Gemahl in lateinischer Sprache. Antonia betrachtete das aufgedunsene Gesicht des größten Herrschers, den England jemals erlebt hatte. Sie hatte die sich nähernden Schritte nicht gehört und fuhr mit einem leisen Aufschrei herum, als sich plötzlich eine Hand von hinten auf ihre Schulter legte.
»Pst, wir wollen die Totenruhe nicht stören!«
Vor ihr stand Norman Powderham und bat sie, ihm nach draußen zu folgen. Ein schwarzes Samtband an seinem Barett zeugte von seiner Trauer. Klirrende Kälte schnitt in Antonias Haut, doch ihr war so warm, als würde sie innerlich verglühen. Zum ersten Mal seit dem Turnier sprach Norman sie an, suchte ihre Nähe. Sie betraten eine kleine Halle, in der schwarz gewandete Diener für die Gäste, die dem König die letzte Ehre erwiesen, heißen gewürzten Wein kredenzten. Dankbar griff Antonia nach einem Becher und wärmte ihre Finger an dem Gefäß.
»Ein trauriger Tag, nicht wahr?«, begann Sir Norman. Antonia nickte und wusste nicht, was sie sagen sollte, aber das war auch nicht nötig, denn Norman fuhr fort, und es war, als spräche er zu sich selbst: »Nun werden am Hof andere Zeiten anbrechen. Hast du schon gehört, dass Edward Seymour zum Lordprotektor erhoben worden ist? Zusätzlich hat er den Titel des Herzogs von Somerset erhalten, und der Emporkömmling John Dudley darf sich jetzt Herzog von Lisle nennen. Das hat König Henry nur wenige Stunden vor seinem Tod befohlen. Die beiden Männer werden im Gremium nun unweigerlich den Ton angeben und aus dem Prinzen eine hilflose Marionette ihrer korrupten Machenschaften machen.«
»Aus dem König«, erinnerte ihn Antonia an die veränderte Lage.
»Was?« Zum ersten Mal sah Norman ihr direkt in die Augen, und Antonia begann zu schwanken.
»Der ehemalige Prinz ist jetzt der König, Sir Norman. König Edward VI. von England, Irland und Frankreich.«
Normans Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich vergaß, dass du immer alles besser weißt und kannst, Anthony … äh … Antonia. Aber ich muss dir Recht geben. Ein Reiter ist bereits nach Ashridge unterwegs, um Edward – ich meine den neuen König – vom Tod seines Vaters in Kenntnis zu setzen. Der arme Junge.«
Schüchtern hob Antonia die Hand und berührte Norman am Ärmel. Zu ihrer Freude zuckte er vor ihrer Berührung nicht zurück.
»Sir Norman, könnt Ihr mir irgendwann mein Verhalten verzeihen?«, flüsterte sie und sah ihn mit flehenden Augen an.
Es zuckte um seine Mundwinkel. »Du hast mein Vertrauen schändlich missbraucht, Antonia, aber …«
In diesem Augenblick bog eine Dame um die Ecke. Als sie Norman entdeckte, stieß sie einen Freudenschrei aus und warf sich regelrecht in seine Arme. »Norman, Norman, du schlimmer Junge!«, tadelte sie ihn spöttisch. »Wie lange willst du mich noch warten lassen? Es ist kalt, und ich brauche notwendig deine Wärme.« Sie beachtete Antonia nicht und schob sie einfach zur Seite, als wäre sie ein kleines, dummes Kind.
Das bin ich in Normans Augen wahrscheinlich auch, dachte Antonia bitter. Sie hatte gespürt, dass Norman bereit war, ihr zu verzeihen. Er hatte es ihr gerade sagen wollen, als dieses unverschämte Weib aufgetaucht war! Antonias Herz krampfte sich zusammen bei der Vorstellung, dass Norman in den Armen dieser Frau lag. Mit gesenktem Kopf kehrte sie in die Kapelle zurück.
Am 19. Februar 1547 zog der neue König in die Hauptstadt ein. Drei Tage zuvor war Henry Tudor in Abwesenheit seiner Kinder in der Kapelle St. George in Windsor Castle an der Seite seiner dritten Frau und Mutter von Edward, Jane Seymour, beigesetzt worden. Sosehr der Tod des Monarchen, der Englands Struktur nachhaltig verändert hatte, vom Volk betrauert wurde – nun gab es einen neuen, jungen König, dem es huldigte. Der Herzog von Somerset hatte auf einem großartigen öffentlichen Einzug bestanden, um dem Volk zu signalisieren, dass das Land nun einen neuen Herrscher hatte.
Antonia verfolgte das Spektakel an der Seite von Lady Catherine, die jetzt den
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