Königin für neun Tage
überlegte, was sie jetzt tun sollte, öffnete sich die Tür und eine der Frauen, die sie gestern gewaschen hatten, trat ein. Sie stellte ein Tablett auf den Tisch und lächelte Antonia zu. »Guten Morgen, Mistress Fenton, ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen?«
Antonia nickte verwirrt. Zu neu, zu ungewohnt klang die Anrede
Mistress
in ihren Ohren. »Wer seid Ihr?«
Die Frau reichte ihr einen Becher Milch, den Antonia durstig leerte. »Mein Name ist Beth, ich gehe der Königin bei ihrer Toilette zur Hand. Sie hat mich angewiesen, Euch anzukleiden und zu ihr zu bringen, Mistress.«
»Ich danke Euch«, sagte Antonia und stand langsam auf. Der erquickende Schlaf hatte ihr gut getan, sie fühlte sich, bis auf die Schmerzen an der Schulter, frisch und ausgeruht.
Mit geschickten Händen wechselte Beth den Verband und trug wieder eine dicke Schicht Kräuterpaste auf. »Ich denke nicht, dass die Wunde zu eitern beginnt, aber Ihr müsst darauf achten, den Arm noch einige Tage still zu halten und ihn so wenig wie möglich zu benutzen«, mahnte sie.
Antonia versprach, sich zu schonen, obwohl sie nicht wusste, was jetzt eigentlich mit ihr geschehen würde. Zumindest hatte sie die letzte Nacht nicht im Kerker verbracht, wie es ihr Vater angeordnet hatte. Aber was hatte die Königin mit ihr vor? Hatte ihr Vater bereits mit König Henry gesprochen? Welche Strafe würde der Monarch, der für seine Grausamkeit bekannt war, über sie verhängen?
In diese Gedanken versunken ließ es Antonia automatisch zu, dass Beth sie ankleidete. Die passenden Gewänder holte sie aus einer Truhe unter dem Fenster. Unschlüssig drehte die Kammerfrau eine schlichte, mit dunkelbraunem Samt bezogene Sichelhaube in den Händen. »Ihr werdet wohl einen Schleier tragen müssen, bis Euer Haar gewachsen ist«, murmelte sie, suchte und fand ein entsprechendes Tuch. Als sie ihr die Haube aufgesetzt hatte, schob sie Antonia sanft vor den Spiegel.
Vor Überraschung entfuhr Antonia ein Aufschrei. Aus dem Rahmen blickte ihr eine völlig Fremde entgegen. Zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie Frauenkleidung. Das Kleid aus einfachem braunem Wollstoff schmiegte sich perfekt an ihre grazile Gestalt und betonte die schlanke Taille. Das eingearbeitete Mieder hob ihre kleinen Brüste, deren Ansätze wie zwei vorwitzige Apfelhälften aus dem Dekolleté lugten. Ihr Kopf wurde von dem Schleier umrahmt, der ihr bis über die Schultern fiel und von der Sichelhaube auf ihrem Scheitel gehalten wurde. Während sich Antonia betrachtete, konnte sie es kaum glauben, dass jemand wirklich geglaubt hatte, sie wäre ein Junge. Ohne das kurze, strubbelige Haar wirkten ihre Gesichtszüge weich und feminin, die dunklen Augen wurden von einem Kranz langer, dichter Wimpern umgeben. Unwillkürlich fragte sich Antonia, ob Sir Norman sie wohl für hübsch halten würde, dann verdüsterten sich ihre Züge bei der Erinnerung daran, dass er unterwegs war, ihre Mutter aus Fenton Castle zu vertreiben.
Antonia folgte Beth durch zahlreiche Gänge, treppauf und treppab. Überall waren die Wände mit kostbaren, zum größten Teil flämischen Teppichen bedeckt, dazwischen hingen Porträts von längst verstorbenen Männern und Frauen. Sie erreichten eine Zimmerflucht, an deren Türen jeweils zwei Wachen in grünweißen Uniformen standen. Die Türen wurden geöffnet, und Beth führte Antonia in einen holzgetäfelten Raum, dessen Mittelpunkt ein riesiges Bett mit dunkelblauen Vorhängen bildete. Vor den Fenstern saß die Königin mit vier Hofdamen, alle arbeiteten sie an Stickereien. Königin Catherine legte bei Beth’ und Antonias Eintreten den Rahmen zur Seite und gebot ihren Damen, sie allein zu lassen.
»Danke, Beth, du kannst jetzt auch gehen.« Mit einer Handbewegung wies sie Antonia an, sich auf einem Schemel niederzulassen. Antonia tat wie geheißen, alles in ihr pochte vor Anspannung. Demütig senkte sie den Kopf. »Schau mich an, Mädchen«, forderte die Königin sie auf. Antonia hob den Blick, in ihren Augen lag nackte Angst. Catherine lächelte beruhigend und fuhr schnell fort: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, mein Kind. Wie sollen wir dich eigentlich nennen? Der Name
Anthony
ist wohl wenig passend, oder?«
Angesichts des leichten Plaudertons entspannte sich Antonia ein wenig. »Meine Mutter nannte mich in ihren Gedanken immer
Antonia«
, antwortete sie leise.
»Antonia also, ein schöner Name. Nicht gerade sehr englisch, vielmehr spanisch, aber trug nicht auch schon eine Königin dieses
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