Königin für neun Tage
Antonia bange. Eine Magd hatte ihr erzählt, Frances Grey stiege jeden Tag in die Dachkammer hinauf, um ihre Tochter zu züchtigen.
»Das ist nicht so schlimm. Sie hat mir jedoch gedroht, mich aus der Familie zu verstoßen. Ich sei ohne die Familie ein Nichts und nicht in der Position, mir auszusuchen, wem ich zu gehorchen habe.« Jane lachte bitter auf. »Hast du etwas von Edward gehört? Hat er nicht nach mir gefragt?«
Antonia zerriss es beinahe das Herz, so sehnsuchtsvoll klang Janes Stimme. Sie war voller Hoffnung, dass der König kommen und sie aus dieser Situation befreien würde, aber es gab für Antonia keine Möglichkeit, eine Nachricht an den Hof zu senden, geschweige denn, selbst nach Whitehall zu reiten, um Edward zu informieren.
»Ich muss jetzt gehen, komme aber wieder, sobald es möglich ist.«
»Pass auf dich auf, Antonia«, flüsterte Jane. Als die Schritte der Freundin auf der Treppe verklangen, schlich sie zu dem Lumpenbündel in der Ecke zurück und schaute auf den Sonnenstrahl, der durch die Luke gedrungen war und bunte Kringel auf den staubigen Boden malte.
Jane wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als der Schlüssel im Schloss knarrte und ihre Mutter eintrat. Sie blickte nicht hoch, sicher würde sie gleich erneut geschlagen werden.
»Steh auf und geh in dein Zimmer. Ein Mädchen wird Wasser bringen, damit du dich waschen kannst, und dir beim Ankleiden helfen.« Erstaunt erhob sich Jane und sah nun doch ihre Mutter an. »Wir haben Besuch. Der König ist soeben durch das Tor geritten.«
Edward! Edward war gekommen! Alles in Jane jubilierte und sang. Würde ihr nicht jeder Knochen von den Schlägen schmerzen, so wäre sie am liebsten tanzend durch das Treppenhaus gesprungen. Vergessen waren die Hiebe und der Kummer der letzten Tage – nun würde alles gut werden! Sie ließ es zu, dass das Mädchen sie wusch, ihr Haar richtete und ihr in ein schönes Kleid half. Dann wurde Jane in das Arbeitszimmer geführt, wo ihre Eltern, der König und sein Gefolge sie erwartungsvoll ansahen.
Auf den ersten Blick erkannte Jane, wie schmal und blass der König aussah. Bei seinem Anblick vergaß sie jegliches Hofzeremoniell, rannte auf Edward zu und warf sich in seine Arme. »Edward, o Edward!« Es war ihr gleichgültig, dass ihre Tränen sein feines, weißes Seidenwams benetzten.
»Jane, du vergisst dich!« Schrill hallte die Stimme ihrer Mutter durch den Raum, die versuchte, Jane von der Brust des Königs fortzureißen.
»Es ist alles in Ordnung, Mylady«, sagte der König leise, aber bestimmt. »Lasst uns bitte allein.«
Janes Eltern zögerten, dann zogen sie sich, sich verbeugend, langsam zurück. Edward wandte sich an sein Gefolge: »Ihr auch. Ich bin gekommen, um mit meiner Cousine Jane zu reden. Allein.«
Die Leute verließen den Raum, und Jane sah Edward bewundernd an. Nie zuvor hatte er so königlich und so stolz auf sie gewirkt wie in diesem Moment. Edward nahm sie an der Hand und führte sie zu der gepolsterten Fensterbank. Kaum hatten sie sich gesetzt, fing Jane wieder an zu weinen. Sie schluchzte und schluchzte und konnte gar nicht mehr damit aufhören. Beruhigend strich Edward ihr erst übers Haar, fasste dann mit einer Hand an ihr Kinn und hob ihren Kopf. Erstaunt bemerkte er die blauen Abdrücke der Finger ihrer Mutter auf Janes rechter Wange.
»Ich wurde noch nie geschlagen. Ich habe dafür einen Pagen. Immer, wenn ich unartig war, hat er die Prügel dafür bekommen. Jane, du hättest als Thronfolger geboren werden sollen, dann wären dir Züchtigungen auch erspart geblieben.« Edward hatte die richtigen Worte gefunden. Janes Tränen versiegten, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Es war nicht immer schön für mich, zusehen zu müssen, wenn man den Pagen für meine Vergehen schlug, aber es war meine Pflicht. Und es ist jetzt deine Pflicht, deinem König und deinen Eltern zu gehorchen.«
Mit einem Ruck machte sich Jane aus Edwards Armen frei und sah ihn überrascht an. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Jane, nie war ich weniger zum Scherzen aufgelegt als in diesem Augenblick.«
Janes Augen verengten sich zu Schlitzen. »Warum musst du tun, was dieser Mann sagt?«
»Wen meinst du?«
»John Dudley, der Herzog von Northumberland.«
»Weil ich ihm vertraue.«
»Aber du selbst hast mich vor ihm gewarnt, Edward«, begehrte Jane auf. »Warum tust du jetzt, was
er
will, und folgst nicht deinen eigenen Wünschen?
Du
bist doch der König.«
»Damals wusste ich noch nicht, was ich heute weiß.«
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