Königsallee: Roman (German Edition)
«Wie?» Erika Manns Nachfrage und Stirnrunzeln waren berechtigt. Der Fernorientale schlummerte nicht sichtlich. Die Finger umkrampften unterm Kinn die Plumeaukante, die extrem geweiteten Augen stierten aus dunklem Antlitz, und die Ohrmuscheln schienen zu glühen, wobei letzterer Eindruck trügen konnte.
«Wenn er nicht schläft, lernt er Deutsch.»
«Ach so. Sonst noch etwas? Dann kann er jetzt ja beides verbinden.» Erika Mann grüßte nochmals zu einer offenbar, aber vielleicht nur augenblicklich leicht gelähmten Person hinüber, die wiederum sie mit ihrem Bolero überm Kleid fixierte. «Wohl auch ein sittliches Highlight hier oben. Nun, wenigstens ist Mutter normal und eingleisig geblieben. Aber ihr fehlt auch jede Phantasie.»
«Frau Katia?»
«Die allerhöchstwertsame Frau Thomas Mann, tja, nicht ein Funken Einbildungskraft. Aber das ist ja auch egal. Eine muß die Karre in der Spur halten. Wobei ich doch gottlob mehr und mehr die Richtung vorgebe. Mielein wird alt. Da braucht es eine wendigere und kundigere Kraft. Manche zähere Passage im Faustus , wobei natürlich jede zur Not verzichtbare bei einem anderen Schriftsteller bereits ein Meisterwerk wäre – der Zauberer ist unerreicht –, habe ich nach fünfzehnfachem Lesen und dem Darlegen meiner Argumente gestrichen. Damit ist der Faustus und nicht nur dieser Roman gewissermaßen auch mein Werk. – Von Mielein nichts oder wenig. Sie stellt das Hauspersonal an und entläßt es. Gewiß, ohne sie wäre er nicht, wäre er schütterer oder tot. Vielleicht verhungert, weil er nicht einmal ein Ei braten kann. Auch nicht Kaffee brühen! Aber kompositorisch leistet Mutter nichts. Laß dir Zeit, Tommy. Setz dich hin und es fließt . Dein Teufel macht mir Gänsehaut, wie schön mein alter Geselle das wieder geschrieben hat . Profunderes hörst du von der Mama nicht. Sie war schon als Mädel eher sportlich, die erste Radfahrerin Münchens, und ist gewissermaßen eine Athletin geblieben: stracks geradeaus, über die Hügelkämme. Und abends mit ihm eine Bouillon oder Schokolade in der Küche: Dann geht’s morgen schon weiter, Tommy . Tja, er vertraut dieser hochrangig einfältigen Frau. Mir jedoch allmählich mehr. Vor wem soll er sich noch öffnen? Bei seinem Ruhm, unablässig das Richtige zu äußern? Welche Preise sollten ihn noch beglücken? Er steht nackt im Wind. Vor uns kann er fast Mensch sein. Mama ist die Krücke, und ich bin der Rollstuhl. Was wären wir ohne unseren Patienten? Gerümpel. Schon interessant. Doch, recht pikant. Und welcher Sisyphos will schon den Stein mit einem anderen Sisyphos tauschen? In unserem Hause wird viel gewälzt.»
«Woanders nicht?»
«Woanders auch. Wenn wir das nicht wüßten, wären wir kein geistiger Haushalt. Was hat es denn mit diesem ängstlichen Malaien auf sich? Er wirkt so perplex.» Sie wies aufs Bett. «Er hätte Amokläufer werden können», erklärte Klaus. Erika präzisierte ihrerseits: «Bei uns zu Haus wird Not gesiebt, die Substanz geschliffen und zur Reliquie gegossen. Wir, und damit meine ich Künstler, betreiben den Juwelenhandel der Menschheit.»
Ein mächtiger Gedanke. Klaus räusperte sich. Der Bericht von der Scheinehe mit einem Angelsachsen schien ihm auf alle Fälle weniger privat, ja, intim, als eine angedeutete Rangstreitigkeit zwischen Tochter und Mutter als zwei Sanitäterinnen und Wagenlenkerinnen des Vaters und Gatten. Das verwies auf fundamentale Verwerfungen.
«Ich werde ihn vermutlich überleben. Nicht sie. Ich werde Ruhm in Nachruhm verwandeln müssen. Seine Briefe, die Tagebücher. Ich kann ohne dieses schreckliche altgediente Elternpaar nicht leben. Wer wäre ich dann? Die Amazone. Die Nachlaßeule. Die eingerostete Pfeffermühle.»
«Du bist charmant. Lebhaft. Wie viel Erlebtes, eine herrliche Frau, dazu diese familiäre Wortgewalt.»
«Wir haben sonst nichts. Außer ein paar Konten, deren Volumen gelegentlich überschätzt wird.»
«Vielleicht etwas zu trinken?»
«Was gibt’s denn?»
Klaus schaute zu Anwar, der mit dem Daumen auf die Teekanne deutete. «Versteht er etwas? Wie viel versteht er denn?» fragte Erika Mann und sah sich erstmals nach einer Sitzgelegenheit um.
«Das weiß nur er. In Holländisch ist er perfekt, in Mandarin auch. Indonesisch sowieso.»
«Beeindruckend», lobte sie, zum Bett gewandt. Durch ein wechselseitiges Lächeln wurden die eminente Besucherin und der zur Zeit mundtote, ja wie ins Laken verkrochene Amokläufer einander vielleicht vertrauter.
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