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Königsallee: Roman (German Edition)

Königsallee: Roman (German Edition)

Titel: Königsallee: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Pleschinski
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nicht den Vortritt lassen, sie beanspruchte ihn.
    Klaus Heuser spähte nach seinem Begleiter und konnte ihn schnell im Fauteuil entdecken. Das Bad schien ihn nicht gründlich erfrischt zu haben. Sein Gesicht über dem Mantelkragen war blaß und wirkte schmal. Und er zog ein Taschentuch hervor, schneuzte sich sichtlich gequält. Aha, wußte Anwar Batak: das Nasensyndrom. Die tatsächliche oder vermeintliche Vollproduktion der Schleimhäute stellte sich beim Gefährten gerne bei starker Inanspruchnahme und Überforderung ein. In schlimmen Fällen schneuzte er sich alle fünf Minuten, bekam im Nu eine rote Nase und behauptete sogar, daß sich allmählich ein Ohr verstopfte. Er wirkte in solchen Phasen recht schnell klein und kränklich, meinte, seine Nase nicht sauber abgewischt zu haben und daß jeder seine endgültige Schwäche bemerke. Dazu die mögliche Ohrverstopfung. Klaus horchte dann angestrengt, glaubte, peu à peu bleibend zu ertauben, und kämpfte wohl innerlich dagegen, Reste von Jugendlichkeit dem Zerfall preisgeben zu müssen. Bereits in Meerbusch unter den Mitteilungsgewittern der Eltern hatte er mehrmals zum Taschentuch gegriffen, dem Putzmittel für seinen Seelenindikator, die Nase. Nun war das weiße Tuch wieder im Einsatz. Der Doppelüberfall vom Nachmittag hatte seine Spuren hinterlassen. Natürlich verteilten der Körper und das Gemüt ihre Belastungen ohne Ankündigung auch auf andere Leibesteile. Gelegentlich war es ein Flimmern im Auge, dann ein Gefühl im Zahnfleisch, daß sich dort etwas entzündet habe, ein Stechen in der Herzgegend. Verspannte Schultern konnte Anwar durch Massagegriffe wieder lockern. Nur gegen die Nasenplage mit der anschließenden Ertaubungsangst war wenig auszurichten, der Belastungsmelder des Körpers hatte sich ausgerechnet den Kopf ausgesucht, wo sich ein Unwohlsein besonders bestürzend austoben konnte. Ein französischer Hals-Nasen-Ohren-Arzt in Shanghai hatte nichts Gravierendes, keine Deformation der Nebenhöhle und des Trommelfells diagnostizieren können; um so unheimlicher war es Klaus, daß er plötzlich zum Opfer dieser Organe werden konnte. Natürlich hört man mit den Jahren schlechter, hatte Dr. Dufour erklärt, Stimmen lassen sich schwerer aus den Störgeräuschen filtern. Aber das ist der Lauf der Dinge. Es gibt, Monsieur Heuser, mittlerweile recht ordentliche Hörgeräte. – Klaus wurde durch derlei Auskünfte nicht froh. Alles nur noch Verfallsverzögerung, kommentierte er an düsteren Tagen; in kraftvolleren Stunden: Es ist auch gut, älter, reifer zu werden wie alle, die nicht jung sterben müssen. Hauptsache, man hat gelebt. Das habe ich doch wohl? Tand, Tand ist alles Gebilde von Menschenhand, und der Mensch auch. – Mitunter vergaß man die ganze Malaise, daß man nicht mehr unbewußter Körper war. An der Bar, im Gespräch, im lauten, bunten Gedränge auf der Fähre zwischen Baoshanqu und Chenjiazhen mit seinen schönen Meeresstränden. Dort fühlte man sich eingebettet ins allgemeine Prangen und Verblühen.
    Er schneuzte sich neben einer Säule.
    Für Anwar, den ein wenig Jüngeren, war Klaus Heuser nicht mehr der strahlende Europäer, dem zu gefallen auch ein besonderes Privileg gewesen war. Alles, was Klaus vorzeiten, Ende der dreißiger Jahre auf Sumatra, geäußert, getan und unterlassen hatte – eine Bemerkung zu Gewohnheiten des Gouverneurs, die Sicherheit, mit der er ein Steak bestellte –, hatte anfangs exquisit und welterfahren angemutet, Worte und Bewegungen der Mächtigen und Gestalter, deren Horizont von Argentinien bis zur Mandschurei reichte. Von einem solchen eingeborenen Vertreter Europas ausgewählt worden zu sein – wobei Klaus sich eigentlich nur schlicht und recht mutig verliebt hatte –, hatte Auszeichnung, Erhebung, wenn auch ein bißchen Entfremdung von den Mit-Sumatranesen gemeint. The boy as favourite . Mittlerweile viel Alltag, gemeinsam durchstandene Abenteuerlichkeiten, wohl die Liebe hatten diese unhaltbaren Vergötzungen beseitigt. Die zwei Zahnbürsten über dem Waschtisch hatten nach und nach Brüderlichkeit signalisiert; und wenn Klaus bei einer Grippe mit verquollenem Gesicht zur Toilette tappte, wirkte das ehemalige Imperium Europeum auch schutzlos und hilfsbedürftig. Anwar sah Klaus sich die Nase putzen. Klaus’ Altern, das eigene natürlich weniger, kam ihm gelegen. Man wurde mit den Sorgen, der wechselseitigen Kenntnis insbesondere der Schwächen, zunehmend eins. Es gab Wärme und Unantastbarkeit auf

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