Königsallee: Roman (German Edition)
spazierenzugehen. Aber ohne Geselligkeit kann ich keinen Tag, kaum eine Stunde zubringen. Ein Konflikt.» Für einen Augenblick schien es, als wollte Golo Mann den massigen Kopf auf die Schulter des schütter werdenden, gleichwohl aparten Indonesiers legen. Heuser seinerseits meinte, sich in einer Art von Jenseitigkeit zu befinden, jenseits von Nüchternheit, ja auch schon jenseits von gängigem Rausch, geradezu gleißend hell war es im Kopf, durchzuckt von Buchstaben, ausgebrannten Schloßtürmen, immer wieder den Kunstwerken auf dem Schreibtisch von Thomas Mann in München, eine Buddhafigur, das Bildnis des asketischen Diktators von Florenz, Savonarola. Jenseitig gespannt waren die Nerven, ein Klirren wie von Glas in den Ohren – alles nicht übermäßig unangenehm, nur aufstehen durfte er vielleicht nicht, um nicht über das eigene Stuhlbein zu stolpern. Er war gefordert, er stellte sich. Und vernahm: «Mit Details will ich Sie nicht langweilen. Ich wandte mich nach Heidelberg, um bei Karl Jaspers Philosophie zu studieren. Ein Auto, das mir meine Eltern schenkten, ermöglichte mir manche Tour durchs alte schöne Deutschland. Geschüttelt von der großen Wirtschaftskrise, ohne demokratischen Geist, geriet es zunehmend in die Fänge der Nationalsozialisten. Antisemitismus, den ich zuvor kaum verspürt hatte, wurde zum Ventil für Frustration und Haß. Ich zauderte, aber konnte nicht anders, als mich erstmals der braunen Welle entgegenzustemmen. Weiter trat ich für Pazifismus ein, ich riet in Heidelberger Zeitungsartikeln dem Bürgertum, der Sozialdemokratie die Treue zu halten; alles übrige Extreme bedeutete Pöbeltyrannei und Untergang. Bei genauerer Betrachtung wohnte der NSDAP-Ideologie nichts anderes inne als Gehorsam und Unterdrückung. Dem bißchen Wohlfahrt, das die Partei versprach, als es übrigens um 1933 in der gesamten Welt wirtschaftlich wieder aufwärtsging, entsprach ein Nichts als Zukunftsvision. Für Europa: keine Idee außer Ausbeutung und Unterjochung. Und was meint völkisches Glück im Alltag? – Nichts. Als bewahrender Mensch mußte ich mich, mit schwachen Kräften, dem Mißbrauch aller deutschen Tradition entgegenstellen. Die Kaiser wurden zu Blutsführern, der brillante Bismarck zum Vor-Führer, Friedrich der Große zum stumpfen Teutonen verfälscht. Pathos und Bombast in jeder Silbe. Wann wird dieses Land vom Verrat an seinem Erbe genesen? Es muß seine Schuld und ihre Resultate anerkennen. Der Zauberer ging ins Exil, die gesamte Familie. Wir schwebten in Lebensgefahr. Durch Menschen, wie sie hier gemütlich zechen. Schlagartig wurden wir als dekadente Kosmopoliten mit jüdischem Anteil gebrandmarkt … Ich rettete, wie ich bereits erwähnte, Vaters Tagebücher. Die Tschechische Republik half mir mit einem Paß. Nach ihrer Zerschlagung wich ich nach Frankreich aus. Wurde Lehrer, versuchte die Franzosen gegen die Übermacht Hitlerdeutschlands aufzurütteln. Eine Ehrensache angesichts der gen Paris aufgefahrenen Panzerkolonnen. Amerika, die letzte Zuflucht für uns alle. Ein Leben, das wohlversorgt begonnen hatte, war zur Wanderschaft geworden, mit Internierungscamps am Rande des Abgrunds. Immer wieder das Elternhaus als Zuflucht, der Zauberer alimentierte all seine Kinder. Vielleicht, neben dem Fluch der Epoche, auch ein Fluch, stets von einem irgendwo gedeckten Tisch zu wissen. Sie, Herr Heuser, werden andernorts diese Zeit durchgestanden haben. Aber an Ihnen verspürte ich von Anfang an nicht die Vergiftung durch das braune Regime. Meinetwegen, Sie waren hier Mitläufer, Frontsoldat.»
«Ich spielte einmal Geige im NS-Orchester von Shanghai und verunstaltete unabsichtlich den Foxtrott. Danach weiterhin Export.»
«Bravo. Davon später mehr. Denn ich muß Sie inständig um etwas ersuchen.»
«Die Mappe?» Heusers Finger wies in einem unsicheren Bewegungsradius zum edlen Leder auf Golo Manns Schoß. Glasigen Auges stierte Anwar das Portefeuille an.
«Exakt. Während der Emigration stieß ich zu meinem ersten eigentlichen Werk vor. Ich verfaßte ein Buch. Die Lebensgeschichte des Friedrich von Gentz.»
Von diesem Namen und der Person dahinter konnte es nicht herrühren. Anwar Batak kannte beides nicht. Aber plötzlich geriet Bewegung in ihn. Eine ungute. Die Finger glitten vom grünen Fuß des Schoppenglases. Der Oberkörper, der bereits geraume Zeit im Anzug zu hängen schien, begann zu schwanken. Die Augenlider des Insulaners klappten dramatisch auf und zu, doch zu sehen schien er
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