Königsallee: Roman (German Edition)
mit dem Ärmel nun doch durchs Weinpfützchen. «Sie verlangten zu Recht und als von mir Überrumpelter –»
«Ach Gott, da gibt es rücksichtslosere Zeitgenossen.»
«– einen Grund für meine Zudringlichkeit.»
«Das bitte auch, ja.»
«Es ist nun nicht so, daß ich mit leeren Händen dastehe im Leben.» Irgendwie schien der Gedanke an Tode, rätselhafte, plötzlich in Düsseldorf, noch nicht vollständig aus dem wenig Geliebten gewichen zu sein. Auch das Erbe, die Tantiemen, die einem Hinterbliebenen zuflössen, mußten astronomisch sein. Sogar Taiwan verschlang den Zauberberg . Der Sohn und Bruder mußte sich konzentrieren: «Bald nachdem Sie in München geweilt und mein Bett benutzt hatten, verließ ich die Elternburg und sammelte energisch Welterfahrung. Dem geschundenen Mitmenschen war aufzuhelfen! Militaristen hatten ihm Krieg und Elend beschert, für den Profit der Konzerne, ob Thyssen, Borsig oder BASF, trug der Arbeiter seine Haut zu Markte. Im Aufschwung der goldenen Zwanziger schuftete er im Akkord, als die Zeichen auf Weltwirtschaftskrise standen, bettelte er vor geschlossenen Werkstoren. Für einen profunden Zeitungsbericht über die Masse, die Deutschlands Wohlstand schuf, ging ich selbst als Arbeiter in die Niederlausitzer Kohlenwerke von Zschipkau. Mit diesen Händen», er zeigte die gepflegten Finger, «schob ich 1929 selbst Braunkohleloren. Der Bericht eines Sohns von Thomas Mann aus den Gruben konnte die träge Öffentlichkeit aufrütteln. Allerdings spürte ich wenig revolutionären Geist bei den Lausitzer Kumpeln, sie freuten sich aufs Bier am Abend. Eine Enteignung der Firmen und Banken begeisterte sie kaum, etliche horchten eher schon auf Hitler, der die Lösung sämtlicher Probleme in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft versprach. Schlimme Zeichen. Vielleicht blieb ich auch ein Fremdkörper zwischen den Kumpels.»
«Könnte sein.»
«Ingesamt löste auch ich mich von den in der Theorie überwältigenden Zustandsdiagnosen und Visionen von Karl Marx und Friedrich Engels. Politische Dichter waren sie! Beide setzten nicht auf friedlichen Ausgleich, sondern auf Kampf. Beide mochten im Recht sein, mir widerstrebte die Radikalität. Ich zögerte, ein System durch ein anderes ersetzen zu wollen. Den Kapitalismus durch den Sozialismus. Denn das ist es, was die Geschichte uns lehren kann: nicht zuviel von der Zukunft zu erwarten, nicht zu meinen, man könne überblicken, was kein begrenzter Geist überblicken und erklären kann. Ja, das Studium der Geschichte ist das beste Gegenmittel gegen den Fanatismus, den Extremismus und die Selbstgerechtigkeit. Geschichte lehrt uns eher den Glauben an das Maß, an die Vorsicht als den Glauben an totale Lösungen. Das Studium der Geschichte entwickelt unseren Sinn für Freiheit und Verantwortlichkeit. Ich hoffe, es ist nicht uninteressant, was ich sage.»
«Überhaupt nicht.»
«Ich ging nach Berlin, tummelte mich in der Metropole, lernte ihre Künstler kennen, plädierte für ein vereintes Europa, das keine Kriege mehr bräuchte, näherte mich immer weiter dem Geschichtsstudium an, welches mir nur dadurch verleidet wurde, daß es von nationalistischem Gedankengut durchseucht war, fortwährend Schlachtenverherrlichung, völkische Schicksalsgemeinschaft anstatt Wege auf Europa zu. Durch einen Gelehrten namens Bertram hatte ich zu Hause schon zeitig genug vom Aufschrei des Deutschtums erfahren. Der wahre konservative Historiker stellt jedoch den Menschen in den Mittelpunkt. Der linke hingegen die Systeme.»
Klaus Heuser lehnte sich unmerklich zurück und spähte aus der Neusser Stube an der Theke des großen Wirtssaals entlang. Bertram konnte er zwischen den Biertrinkern auf den hohen Hockern nicht ausmachen. Statt dessen kam Frau Inge mit einer dritten Flasche, die Herr Mann mit einem kleinen Winken geordert hatte. Sehr erfreut über solchen Umsatz, schenkte sie mit «wohl bekomm’s» nach. Anwar wirkte merkwürdig. Auf eigentümliche Weise trug nicht mehr er Anzug und Krawatte, sondern Stoff, Nähte und Windsorknoten schienen vielmehr ihn zu stützen und zusammenzuhalten. Er schlürfte geräuschvoll. «Import, Export?» erkundigte sich Golo Mann zur Seite.
«Ra-Ra-Rattan.»
«Das ist doch eher Import. Es kommt natürlich darauf an, von welcher Seite aus man es betrachtet.» Er spülte eine kleine weiße Pille hinunter, etwas Beruhigendes oder ein Heiterlein: «Ich brauche die Einsamkeit, das Alleinsein, um mit meinen Gedanken
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