Königsallee: Roman (German Edition)
gebürtige Breslauer, im Jahr 1764 zur Welt gekommen, war ein phänomenaler Mann. Über ihn also gelang mir mein erstes eigenständiges Werk, mit dem ich endlich, endlich als schriftstellernder Historiker existierte, als Publizist von Rang, wenn auch nicht von großem Widerhall.»
«Das wird noch kommen», murmelte Heuser, «bei aller Scheu sind Sie auch ein markanter Redner.»
«In Gentz entdeckte ich mich. Der Beamtensproß, klug, hellhörig, allerdings erheblich hübscher als ich, war in jungen Jahren ein begeisterter Anhänger der Aufklärung gewesen, des Umbruchs, der Verwandlung der Gesellschaft ins Freie. Gentz verinnerlichte Immanuel Kants Aufruf an jedwedes Individuum: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, und jenes große Gebot aus Königsberg: Handle nur nach derjenigen Maxime, nach der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. – Eine bedeutsamere Aufforderung, Herr Heuser, sein Dasein verantwortlich zu gestalten, ist nie zuvor ergangen. Gentz – noch ein Irgendwer aus Schlesien – wurde selbst Staatsdiener am preußischen Hof. So weit, so scheinbar gut. Er diente einem verkrusteten Regime, während in Paris die Flammen der Revolution hochschlugen. Und der junge Mann begrüßte freudigen Herzens die Verheißung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Welches Glück konnte diese Botschaft den Menschen bescheren! Und durch freie, verantwortungsvolle Untertanen, die endlich Bürger würden, konnten auch Staaten zu lebensfrohen Gemeinschaften werden.»
«Das ist klar», nickte Heuser. «Gut, etwas mehr zu wissen, als man vorher wußte.»
«Doch schnell geschah es, das Unwägbare, das menschlich Schicksalhafte. Aus dem Freiheitstraum in Frankreich entwickelte sich die Blutherrschaft der Revolution. Köpfe rollten. Grauen hielt Einzug. Über die Brüderlichkeit und Gleichheit obsiegte die Radikalität, eine neue Entmündigung unter der Diktatur von Freiheitspredigern, die keinen Widerspruch duldeten. Robespierre, auch Stalin heute darf Ihnen einfallen. Mao jetzt in China.»
Heuser setzte sich aufrecht hin.
«Der Ausgleich fehlte, zwischen Gewachsenem und Neuem. Wer auch könnte solcherlei lenken, wenn Altes, Verkrustetes nicht weichen will und jedweder Kompromiß als Schwäche erscheint? Unter der Guillotine mußte vielleicht – aber wir haben es zu bedauern – Blut vergossen werden. Gentz wurde unwohl angesichts von Geköpften, die massenweise in ungelöschten Kalk geworfen wurden, im Namen der Freiheit. Für ein vielleicht imaginäres Gemeinwohl. Blut für Recht? Für Gleichheit zwischen Menschen, die doch ungleich sind? Durfte sich jeder ungehemmt entfalten? Aus der Durchsetzung von Idealen war Terror geworden. Mußte Freiheit, schon ihre tugendhafte Idee davon, nicht doch eingeschränkt werden? Und Napoleon trat auf den Plan. Das unfaßlich dynamisierte Frankreich überschwemmte mit seinen siegreichen Armeen Europa, ließ die Fürsten mumienhaft aussehen und zwang den Erstarrten Gesetze im Geist der allgemeinen Menschenrechte auf. Zu unser aller Wohlfahrt. Doch wahrlich nicht allein Gentz, ohne deutschtümelnd zu sein, steigerte sich in einen regelrechten Haß auf den neuen Zwingherren aus Frankreich, diesen Kaisergeneral, der Staaten mit einem Federstrich auslöschte, immer ruhmessüchtiger wurde, für die Gloire, Schlachtenerfolg, im Befehlsrausch Hunderttausende aus aller Herren Länder in die Gemetzel führte. Europa, das der Freiheitlichkeit entgegengestrebt war, wurde von Spanien bis zum Baltikum ein Blutacker, aufs neue für einen Machtwahn ausgelaugt. Bei Jena und Auerstädt, 1806, erlag die preußische Streitmacht den Franzosen. Ich mußte 1933 ins Exil, Gentz, der brillante Kopf und Formulierer –»
«Könnte darin die Verwandtschaft liegen?»
«… entwich nach Österreich. Der Hort der Tradition, damals im bedeutenden Sinne. Von Wien aus galt es, eine sich rücksichtslos austobende Freiheit, die dadurch keine war, und einen übermächtigen Diktator niederzuwingen.»
«Düsseldorf lebte unter Napoleon und dem frischen Wind auf. Vor allem die Frauen mochten die Franzosen.»
«Ich weiß», konzedierte aus dem Halbdunkel Golo Mann, «man macht sich nicht nur Freunde, wenn man von der Wahrung von Traditonen spricht, von Gentz und behutsamer Freiheitsverwaltung. Binnen weniger Jahr stieg er zum Sekretär Europas auf. Natürlich interessierten ihn auch gute Einkünfte und Orden. Friedrich Gentz, bald geadelt, wurde zum Star der Kämpfer
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