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Königskind

Königskind

Titel: Königskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Pfarrer ihres Sprengels.«
    »Sprich nur, Mariette, sprich«, sagte mein Vater mit seiner üblichen Leutseligkeit.
    »Im Viertel Hulepoix wohnte eine Jungfer namens Pérrischou, welche Jungfrau und unschuldig ist.«
    »Ist es nicht schon erstaunlich, daß sie beides ist?« sagte La Surie.
    »Und diese Jungfer«, sagte Mariette, »hatte siebenundzwanzig Tage nicht pischen gekonnt.«
    |29| »Siebenundzwanzig Tage«, sagte mein Vater, »und daran ist sie nicht gestorben?«
    »Ist sie nicht.«
    »Das ist allerdings ein Wunder«, sagte mein Vater.
    »Weiter, Mariette«, sagte La Surie.
    »Sie hat einen Bauch gehabt, hart wie Stein, und litt die neunschig Qualen der Hölle.«
    »Neunzig?« fragte La Surie. »Ich wußte gar nicht, daß es so viele sind: das gibt zu denken.«
    »Weiter, Mariette«, sagte mein Vater.
    »Zum Glück, Möschjöh le Marquis, kam ein guter Jesuitenpater durch ihre Gasse, der hört das Wehgeschrei, und als er das Wie
     und Warum erfährt, legt er der Jungfer eine Reliquie des heiligen Ignazius von Loyola an den Busen und verspricht der Ärmsten,
     daß sie von ihrem Leiden geheilt wird, wenn sie gelobt, vor den Kirchenfeschten zu faschten, zu beichten und die Kommunion
     zu empfangen. Dieses gelobte die Jungfer auch, und das zu ihrem Beschten, denn auf einmal hat sie pischen gekonnt, Möschjöh
     le Marquis, hat gepischt und gepischt, einen ganzen Wasserfall!«
    »Das war wohl auch nötig nach siebenundzwanzig Tagen Verhaltung«, sagte mein Vater. »Großen Dank, Mariette, daß du uns dieses
     schöne Wunder erzählt hast.«
    »Es heißt das Pischewunder«, sagte Mariette, »und ist im ganzen Viertel Hulepoix berühmt. Sogar gedruckt ist esch worden.«
    »Trotzdem, Mariette«, sagte La Surie, »solltest du dir merken, daß der Pater Ignazius von Loyola noch nicht heilig gesprochen
     ist. Er ist nur erst selig gesprochen.«
    »Ich will’sch mir merken, Möschjöh le Chevalier«, sagte Mariette.
    Pierre de l’Estoile, der an jenem Abend bei uns speiste, gehörte zum Richterstand, war trotz seines Adelstitels ein ehrenwerter
     Pariser Bürger, sehr wohlhabend (was er aber verhehlte) und seinem toten König und der Nation bestimmt treuer ergeben als
     so manche Fürsten, die ich beim Namen zu nennen wüßte. Er hatte sein richterliches Amt vor Jahren verkauft, hatte aber am
     Gerichtshof und im Louvre noch immer eine große Zahl Freunde, so daß im Parlament oder bei Hofe nichts vorfiel, wovon er nicht
     erfuhr. Mein Vater hegte große Freundschaft |30| für ihn und fand seinen Umgang nach wie vor überaus lehrreich, wenn L’Estoile sein persönliches Los und die Zukunft des Reiches
     auch in den schwärzesten Farben malte. Denn seine Geisteshaltung, die allezeit melancholisch gewesen war (so wollte er nicht
     in der Kirche seines Sprengels begraben werden, weil er sie zu düster fand), war seit dem Tod des Königs in bodenlose Verzweiflung
     umgeschlagen, obgleich er als guter Gallier es bei aller Liebe nie unterlassen hatte, über Seine Majestät herzuziehen, als
     der König noch unter uns weilte.
    Gleich beim ersten Bissen unseres Mahls, dem er übrigens mit gutem Appetit zusprach, eröffnete uns L’Estoile mit bekümmerter
     Miene, diesmal sei es nun mit ihm vorbei, er sei ruiniert (was nicht stimmte) und gehe mit großen Schritten auf das Grab zu
     (was sich leider wenige Monate später bestätigte).
    Was unser armes, tief betrübtes Frankreich angehe, so sei es an keinem besseren Punkt, da es der schamlosesten Verschwendung
     ausgeliefert sei und daumesbreit davor stehe, von seinen Feinden zerrissen und zerstückelt zu werden. Doch blieb er bei dieser
     seiner Diatribe höchst vorsichtig und wechselte vom Französischen zum Latein über, sowie Mariette mit einer neuen Schüssel
     hereinkam.
    Was sein Äußeres betraf, um auch dies zu erwähnen, so hätte unser Freund wenig Grund gehabt, sich seiner zu rühmen, er war
     krumm, eingesunken und sein Gesicht von tiefen Falten gefurcht; doch seine Augen blickten lebhaft und scharf und blitzten
     zuweilen lüstern, wenn er jene unverfrorenen Verse und Lieder zitierte, die bei den Parisern die Runde machten. L’Estoile
     stellte jedoch klar, daß er sie lediglich als Zeugnis der Sitten unserer Zeit betrachtete.
    »Es geht höchst merkwürdig zu in der Regierung (Mariette kam herein)
istius mulieris 1 .
Da gibt es den Regentschaftsrat, den unser verstorbener König noch eingesetzt hatte. Und der umfaßt die Prinzen von Geblüt, die Herzöge und

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