Königskind
Feder aus der Hand und machte sich wortlos an seine Aufgaben.«
»Ich wette«, sagte La Surie, »daß die Wände und Türen um Ludwig Augen und Ohren haben. Angenommen, dieses Buch fällt in die
Hände der Regentin …«
»Das ist kaum zu befürchten«, sagte Héroard, »die Regentin liest nicht.«
»Schön, aber angenommen: jemand stößt darauf und zeigt es der Königin.«
»Dort, wo es zur Stunde ist, wird kein Jemand es finden«, sagte Héroard mit leisem Lächeln. Und hiernach verschloß er sich
wieder wie eine Auster.
»Mir scheint«, sagte mein Vater, als wir unser gemeinsames Zimmer aufgesucht hatten, »daß die Anekdote unseres Freundes nicht
nur von Ludwigs antispanischem Denken und von seiner Treue zu seinem Vater zeugt, sondern auch, daß er durchaus nicht dem
Bild des infantilen Kindes entspricht, das der Hof von ihm zu geben bemüht ist: er wartet, bis er mit Héroard allein ist,
um ihm, ohne ein Wort, zu enthüllen, wie er denkt.«
In dem Augenblick wurde mein Vater durch eine Folge weiblicher Schreie unterbrochen, die aus dem Schlafgemach unseres Gastgebers
zu dringen schienen. Sie steigerten sich bis zu einem starken, zerreißenden Höhepunkt, lösten sich, leiser und sparsamer werdend,
in Seufzern auf, die weniger Schmerz als Behagen verrieten. Und Haus und Nacht waren wieder still.
»Hört diese Stille, mein Sohn«, sagte mein Vater, indem er lächelnd die Hand hob. »Welchen Wert hat sie nach dem, was wir
soeben hörten. Wie zärtlich und entspannt sie ist! Wir hatten der Dame Unrecht getan, sie ist nicht stumm. Sie schont ihre
Stimme für einen Ausdruck, höher als Worte. Und wenn man die Menschen liebt, mein Sohn, wie ermutigend ist es dann, sich zu
sagen, daß die Zeugung ihrer zehn schönen Kinder durchaus keine Pein für sie war.«
* * *
Am nächsten Tag klopfte um Schlag neun Uhr ein langer Lakai in prächtiger Livree mit dem Lothringer Kreuz an die Tür des ehrwürdigen
Doktors Carajac, um mir ein mit dem Wappen der |53| Guise gezeichnetes Billett auszuhändigen, nachdem ich ihn versichert hatte, daß ich in der Tat der Chevalier de Siorac sei.
Obwohl er nur den Platz der Kathedrale überquert hatte, um mir das Briefchen zu überbringen, gab ich ihm für seine Mühe einen
Viertel Ecu, ein Trinkgeld, für dessen Höhe mein Vater mich schalt. Doch wollte ich keinesfalls, daß unter dem Gesinde des
Hauses Guise herumgetratscht würde, ich sei ein Knicker, da meine liebe Patin ohnehin sehr zu der Ansicht neigte, die Sioracs
hielten zu wenig auf ihren Rang. Und wäre sie bei der Szene zugegen gewesen, in der Toinon mit Mariettes Beistand meinen Vater
dazu gebracht hatte, seine Kutsche neu vergolden zu lassen, hätte sie dies zweifellos wiederholt.
Das Briefchen, am Vortag datiert, war von Madame de Guise, die Orthographie auch:
»Mein Sönhen,
Die reise hat mich zershlan. hab zenmal mein ende komen sehn. Besucht mi morgen zen ur, ich hab mei kinskof von Son da.«
»Herr im Himmel!« sagte ich zu meinem Vater, dem ich das Billett entgegenstreckte, kaum daß ich unser Zimmer betrat. »Neun
Uhr! Und ich bin noch nicht einmal angekleidet.«
»Bleib ruhig«, sagte er lächelnd. »Madame de Guise ist auch um zehn noch nicht wach, so ›zerschlagen‹, wie sie von der Reise
ist. Was diesen ›Kindskopf von Sohn‹ betrifft, hat sie den Erzbischof und Diakon von Reims allerdings treffend beschrieben.«
»Was bedeutet der Diakon in seinem Fall?« fragte ich, während ich in meine Kniehosen schlüpfte.
»Es ist die oberste Sprosse in der Hierarchie der Priesterschaft. Unser Kindskopf darf predigen – eine schöne Predigt wird
der Schafskopf uns halten! –, er darf die Taufe vollziehen und notfalls die Kommunion, aber er darf keine Messen lesen. Man
wird festgestellt haben, daß er zuwenig weiß.«
»Trotzdem«, sagte ich, »war er vor zwei Jahren, auf dem Ball der Herzogin von Guise, bereits Erzbischof, trug die violette
Robe und kassierte die Einkünfte seines Erzbistums.«
»Aber in den zwei Jahren wird er seine Liturgie nicht besser studiert haben. Und seit der König tot ist, jagt er ohnehin andere
Katzen.«
|54| »Andere Katzen?«
»Wenn Ihr im erzbischöflichen Palast seid, haltet die Augen und Ohren offen. Vielleicht begegnen Euch grüne Augen und ein
kleines Mauzen.«
Mochte der junge Erzbischof (denn jung war er und sehr schön, blond und blauäugig wie seine Mutter) auch keine Leuchte in
Liturgie sein, herzlos war er
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