Königskind
königlichen Zuge zu fahren, der sich über mindestens drei
Meilen hinzog, wo die Tiere mit dem Maul quasi an den vorderen Wagen stießen. Ganz zu schweigen auch von der dichten Staubwolke
auf den ausgedörrten Straßen, die unseren Kehlen und Lungen zugesetzt hätte.
In Reims nahmen wir weder im Gasthof noch im Kloster oder bei beliebigen Bürgersleuten Quartier – die kleinste Stube, Kammer,
Zelle, ja jeder Abstellraum war seit langem vorbestellt, und was übrigblieb, hatte Preise, um einen Hugenotten das Zittern
zu lehren. Nein, mein Vater fand Tisch und Bett für uns bei einem alten Freund, seinem Kommilitonen an der Medizinischen Fakultät
zu Montpellier, dem ehrwürdigen Doktor der Medizin Carajac, welcher zugleich Chirurg war – ein seltener Fall, denn für gewöhnlich
gilt die Chirurgie der Medizin ja als eine geringere, weil zu mechanische Kunst.
Carajac hatte seinen Sohn zum Apotheker gemacht, so daß in Reims kein Kind einer guten Mutter den Arzneien, Klistieren der
beiden oder dem Skalpell des Alten entrinnen konnte. Ihr Wohlstand sprang übrigens jedermann ins Auge, denn ihr Haus war schön
am Platz der Kathedrale gelegen und nicht etwa aus vergänglichem Holz erbaut, sondern aus solidem Stein mit glänzendem Ziegelwerk,
und ein wunderhübscher Giebel, der in der Mitte einen offenen Vorsprung wie eine Loggia hatte, gab dem Gebäude ein elegantes,
beinahe vornehmes Ansehen.
Das Äußere des Doktors war der Beweis, daß Karl Martell nach seinem Sieg bei Poitiers nicht alle Araber aus Frankreich vertrieben
hatte, falls Carajac Haare, Haut und Augen nicht |47| einem türkischen Piraten verdankte, der sie einer Jungfer von Aigues-Mortes (dem Geburtsort unseres Freundes) anläßlich eines
jener grausamen Überfälle, welche den unglücklichen Hafen so oft heimsuchten, zur Erinnerung hinterließ.
Mein Vater hatte Carajac in seinen jungen Jahren sehr geliebt und sich mit ihm in große Gefahr gewagt, als die beiden auf
dem Friedhof von Saint-Denis zu Montpellier eine Hure ausgruben, weil sie begierig waren, den Leichnam zu sezieren, um die
Geographie des menschlichen Körpers genauer zu erkunden: ein Verbrechen, auf das der Scheiterhaufen stand, wären sie erwischt
worden. Mein Vater hat diese Geschichte im zweiten Band seiner Memoiren 1 erzählt, und da ich sie gelesen habe, erinnere ich mich nicht ohne Schaudern, daß Carajac der Leiche das Herz herausschnitt, bevor er und mein Vater sie zunähten
und wieder in die Erde legten, und daß er es in einem Schnupftuch nach Hause trug, um es in Muße zu studieren, so groß war
sein Verlangen, die Kammern und Kanäle dieses Organs zu erforschen, über welches Galenus, wie er meinte, nur dummes Zeug gesagt
hatte.
So beeindruckend Carajac durch sein fremdes Äußeres auch war, durch seine Schweigsamkeit war er es noch weit mehr. Man konnte
glauben, daß er sich jeden Morgen beim Aufstehen gelobte, bis zum Abend nicht mehr als hundert Wörter zu sagen, und daß er
den ganzen Tag achtgab, seinen kleinen Vorrat nicht unnötig anzutasten. Höflich war er auch nicht. Als mein Vater ihm warmherzig
für seine Gastfreundschaft dankte, erwiderte er: »Hätt ich Euch nicht genommen, hätte der Vogt meine Zimmer für die Höflinge
beschlagnahmt.« Trotzdem, behauptete mein Vater, behage ihm unsere Gesellschaft sehr. Beim Teufel, dachte ich, was hätte er
wohl gesagt, wenn sie ihm nicht behagt hätte?
Carajac war wortkarg. Aber seine Frau war stumm. Oder wenigstens glaubte ich es, bis sie bei Tische mit sanfter, wohllautender
Stimme zu meinem Vater sagte: »Bitte, Monsieur, nehmt Euch doch noch von dem Kapaun.«
Carajac hatte braune Haut, schwarze Augen, einen mageren und muskulösen Körper. Seine Frau war groß, blond, hatte blaue Augen,
einen Rosenmund und volle Brüste. In ihrem |48| Schweigen, ihrem friedevollen Antlitz, ihren fülligen Formen lag für mich etwas wunderbar Entgegenkommendes und köstlich Passives,
woraus ich schloß, der ehrwürdige Doktor Carajac müsse ein glücklicher Mann sein. Ich hielt ihn auch aus dem Grunde für einen
guten Gemahl, weil er ihr, die er geheiratet hatte, als sie vierzehn war, in fünfundzwanzig Jahren nur zehn Kinder gemacht
und also für weise Abstände zwischen den Schwangerschaften gesorgt hatte. Seine Kinder waren daher auch gesund und schön,
und nicht eines hatte er verloren, wie er uns sagte, denn er hatte seine Frau selbst entbunden, weil er zu Hebammen kein
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