Königskind
ihre Hände. Aber sie nahm meinen Kopf in die ihren, zog mich bewegt an sich und flüsterte: »Ach,
mein Sohn, mein Sohn!« Sie hatte mich noch niemals so genannt, auch nicht, wenn wir allein waren. Diesmal aber konnte sie
sich nicht bezwingen. Und weil sie sich auf dem Gipfel ihres irdischen Glücks fühlte, weinte sie.
Auch ich war heftig bewegt durch die Zeichen ihrer großen Liebe und noch mehr vielleicht durch ihre Vorliebe für mich, denn
seit jeher hatte sie mich weit über ihre legitimen Söhne gestellt. Trotzdem war ich nicht aus denselben Gründen glücklich
wie sie und hütete mich, ihr ein Wort davon zu sagen. Madame de Guise sah mich in Stellung bei Hofe, mit einem ehrenwerten
Titel geschmückt, mein Leben lang im Genuß einer hohen Pension und – die höchste Ehre – einer Wohnung im Louvre. Ich war für
die Vorteile dieser Stellung weder blind noch unempfänglich, aber das Entscheidende daran war für mich, daß sie mir erlauben
würde, um Ludwig zu sein und ihm zu dienen, wie ich es mir immer gewünscht hatte, und ganz besonders nach dem Tod seines Vaters.
»Mein Gott!« rief plötzlich Madame de Guise, indem sie mich aus ihrer Umarmung freigab und erschrocken mit beiden |82| Händen ihre Wangen faßte, »ich habe geweint! Geschminkt, wie ich bin! Nein, wie konnte ich … Söhnchen, bitte, seht mich nicht
an! Und laßt mich allein, geht, laßt mich!«
Obwohl dieser jähe Abschied mich ein wenig verstörte, kannte ich Madame de Guise doch zu gut, als daß ich sie hätte umstimmen
können, wenn sie in solcher Verfassung war. Und ich verließ sie mit einem letzten Blick, den sie mir nicht zurückgab, weil
sie nur beschäftigt war, sich in einem kleinen Spiegel mit einer so angstvollen Miene zu betrachten, daß es mir ins Herz schnitt.
Ich war noch keine zehn Schritt von ihrem Zimmer entfernt, als ich auf einen großen, sehr kräftigen jungen Geistlichen stieß,
der mich tief grüßte und in dem ich denjenigen erkannte, der während der Salbung in der Galerie über die Sicherheit von Madame
des Essarts gewacht hatte. Ich erwiderte seinen Gruß, und zu meiner großen Überraschung blieb er vor mir stehen und sprach
mich an.
»Monsieur, seid Ihr nicht der Chevalier de Siorac?«
»Der bin ich.«
»Monsieur de Bassompierre hatte Euch von seinem Fenster aus hier eintreten sehen, und weil er sich dachte, daß Ihr die Frau
Herzogin von Guise besuchen würdet, hat er mich beauftragt, Euch abzupassen und ohne Aufsehen zu ihm zu bringen. Ist Euch
dies genehm, Herr Chevalier?«
Ich betrachtete ihn, während er sprach. Er war strohblond, trug eine kleine Calotte (schwarz wie seine Soutane) und hatte
fahle Augen, die mir sehr klein vorkamen. Sicherlich, weil er andauernd zwinkerte wie ein Nachtvogel im jähen Licht. Im Gegensatz
zu seinen Augen und seiner Nase, die ebenfalls sehr klein war, hatte er einen so langen Kiefer, daß er einem Pferd ähnlich
sah. Er geizte nicht mit Verbeugungen, wahrlich nicht. Beinahe bei jedem Satz klappte er nach vorn. Es sah immer aus, als
bräche er entzwei. Aber, Gott sei Dank, richtete er sich jedesmal wieder auf, sehr groß, sehr gerade und in einem fort zwinkernd.
»Sicher«, sagte ich, »es ist mir genehm.«
Nach einer neuen Verbeugung sagte der Geistliche mit jener samtig murmelnden Stimme, mit der Priester zugleich ihre Demut
und ihre Abscheu vor den Kriegskünsten bekunden: »Herr Chevalier, ich stehe Euch zu Diensten. Beliebt mir zu |83| folgen. Ich führe Euch an einen Ort, wo Monsieur de Bassompierre Euch sprechen kann, ohne beobachtet zu werden.«
Nach neuerlichem Gruß zog er mich so geschwind mit sich fort durch ein Gewirr von Gassen, daß ich kaum hinterherkam, vor allem
weil er ellenlange Beine hatte, auf denen er übermäßig ausschritt, während seine Soutane bald vorwärts, bald rückwärts um
seine Quadratfüße knatterte. Ich eilte ihm fast im Laufschritt nach, bis er endlich vor einer niedrigen Rundbogenpforte anhielt,
mit der Hand tief in seine Soutane griff und einen großen Schlüssel hervorzog, mit dem er aufschloß.
Die Pforte öffnete einen tintenschwarzen Raum, der Geistliche wandte mir seinen Pferdekopf zu und bat mit neuerlicher Verbeugung,
ich möge warten. Er schlug ein Feuerzeug an, mit der kleinen Flamme an seinem langen Arm ging er hinein und zündete zwei Leuchter
an, so daß aus der Finsternis ein kleiner Altar mit einem Kruzifix und einem sehr niedrigen, sehr feuchten Gewölbe
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