Königskinder (German Edition)
lebten in einer anderen Welt, die unerreichbar geworden war.
Im Frühjahr kündigte Irka ihre Stellung und zog nach London. Sie hatte Aussicht, dort in ihrem an der Wiener Kunstgewerbeschule erlernten Beruf als Goldschmiedin zu arbeiten, und bereitete eine Kollektion vor. In Wien hatte sie angefangen, mit ihrer Arbeit gutes Geld zu verdienen. Ihre überwiegend aus Silber gestalteten Schmuckstücke waren eine gelungene Mischung aus der Anfang des Jahrhunderts gegründeten und 1932 aufgelösten Wiener Werkstätte und Einflüssen aus ihrer Heimat. So verwendete sie gern die in Polen beliebten roten Korallen zur Verzierung stilisierter Blüten.
Doch der englische Juwelier, mit dem sie im Gespräch war, erwartete eine finanzielle Vorleistung, die sie nicht erbringen konnte, und die Sache zerschlug sich. In Kriegszeiten haben die Leute anderes im Kopf, als Schmuck zu kaufen. Im Mai kam Erich nach, da war der Appeasement-Politiker Neville Chamberlain eben als Premier zurückgetreten, und der energische Winston Churchill hatte eine Regierung der Nationalen Koalition gebildet.
Als Erichs Internierung immer wahrscheinlicher wurde, beschlossen sie, vorerst von ihrem Ersparten zu leben und die ihnen verbleibende Zeit gemeinsam zu verbringen. Denn die Stimmung begann allmählich zu kippen. Die längste Zeit war die britische Öffentlichkeit den Flüchtlingen gegenüber wohlgesinnt gewesen. Auch noch, als im Januar einige Boulevardblätter sie als Spione und Saboteure anschwärzten. Ein Kommentator des linken New Statesman , Erichs Lieblingszeitschrift, äußerte die Vermutung, die Vorwürfe würden von der Armee lanciert. Die im Daily Express und im Daily Herald veröffentlichten Verleumdungen bereiteten den Boden für einen neuen Weg in der Ausländerpolitik. Erich verbrachte seine Vormittage damit, in der öffentlichen Bibliothek die Tageszeitungen zu lesen und in ein Notizbuch einzutragen, was ihm wichtig erschien.
Nachdem die 4. Panzerdivision der deutschen Wehrmacht am zehnten Mai bis zur französischen Kanalküste vorgedrungen war, wurde am elften Mai die erste Kabinettssitzung unter dem Vorsitz des neuen Premiers Sir Winston Churchill abgehalten. (Und am zwölften Mai begann die Royal Air Force mit der Bombardierung deutscher Städte, Mönchengladbach machte den Anfang.) Der vierte Tagesordnungspunkt der Londoner Kabinettssitzung lautete «Invasion Großbritanniens». Innenminister Sir John Anderson wurde von der britischen Generalität aufgefordert, den Küstenstreifen von Ausländern zu räumen, also erklärte Anderson unverzüglich die gesamte Ostküste von Inverness im Norden bis Dorset im Süden zur Schutzzone. 2200 deutsche und österreichische Männer im Alter zwischen sechzehn und sechzig, die in dieser Region lebten, wurden «vorübergehend interniert», wie es hieß. Darunter befanden sich auch Urlauber, die das Pech hatten, das Pfingstwochenende für einen Ausflug ans Meer genutzt zu haben.
Als die Niederlande kapitulierten, wurden alle männlichen Deutschen und Österreicher der Kategorie B in einer Überraschungsaktion festgenommen und von Soldaten in geschlossener Formation in ein Internierungslager eskortiert. «Act! Act! Act! Do it now» , rief der Titel eines Korrespondentenberichts in der Daily Mail vom vierundzwanzigsten Mai. Beunruhigt stellte Erich fest, dass nun auch seriöse Zeitungen wie die Times mitzogen.
«Wir müssen uns bereithalten», warnte er Irka. «Und dass du mir deine Reize in meiner Abwesenheit nicht irgendwelchen Männern anbietest, die in der Rüstungsindustrie arbeiten!»
Irka sah ihn verdutzt an.
«Hier, lies das. Ich hab’s dir aus dem Sunday Chronicle abgeschrieben: ‹Es gibt Anzeichen dafür, dass einige der Frauen – durchweg sehr hübsch – sich nicht zu schade sind, ihre Reize jungen Männern anzubieten, die dafür empfänglich sind, besonders wenn sie in Rüstungsbetrieben arbeiten.›»
Sie lachten. Doch als hätte die Zeitung es angeordnet, wurden tags darauf dreitausend Frauen der Kategorie B auf der Isle of Man interniert.
Nach dem Rückzug der englischen Truppen aus dem französischen Dünkirchen wurde über alle Ausländer, mit Ausnahme der Franzosen, eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Gegen die in England lebenden local Italians war seit einiger Zeit eine rassistische Propaganda im Gang, um die sich vor allem die Tageszeitung The Daily Mirror verdient machte. Sie bezeichnete die elftausend in London lebenden Italiener in einem Artikel als
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