Köpfe
Lügen wurde zur geheiligten Wahrheit. Wie oft war das in der menschlichen Geschichte geschehen, und wie viele hatten darunter gelitten und waren dafür gestorben?
Während meiner Forschungen auf der Erde hatte ich mich mit den Propheten der Vergangenheit beschäftigt. Zarathustra. Jesus. Mohammed. Sabbatai Zewi, ein türkischer Jude des siebzehnten Jahrhunderts, der von sich behauptete, Messias zu sein und der zu guter Letzt abtrünnig wurde und zum Islam konvertierte.
Al Mahdi, der die Briten bei Khartoum geschlagen hatte. Joseph Smith, der mit Hilfe einer Spezialbrille Gottes Wort von goldenen Tafeln ablas, und Brigham Young, Dutzende von Gründern radikaler Zweige des Christentums und des Islams im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Der namenlose, gesichtslose Prophet des Binären Jahrtausends. Und die vielen kleinen, die es seither gegeben hatte, die Täuscher, deren Religionen nach und nach untergegangen waren, die Scharlatane mit so geringem Talent und so verqueren Botschaften, daß sie sich nicht einmal zum Verzehr durch die menschlichen Massen eigneten. In welche Kategorie gehörte Thierry?
Ich riß mich aus diesen düsteren Betrachtungen und fragte mich, wieviel solche Menschen zur menschlichen Philosophie und Ordnung, zur Kultur beigetragen hatten. Judentum, Christentum und Islam hatten die westliche Welt geordnet und geteilt. Ich persönlich bewunderte Jesus.
Doch was ich über Thierry erfahren hatte, machte es mir unmöglich, ihn in die oberste Kategorie einzureihen. Er war ein kleiner Geist gewesen, ein Schürzenjäger, ein bösartiger Verfolger all jener, die bei ihm in Ungnade gefallen waren. Er hatte lächerliche Gesetze niedergeschrieben, um das Leben seiner Anhänger zu beherrschen. Er war grausam und zügellos gewesen. Und schließlich, anstatt auf eine galaktische Reise zu gehen und sich zu den Emporgestiegenen Meistern zu gesellen, wie er es für die Zeit nach seiner ›Entkörperung‹ angekündigt hatte, war Thierry bei der Konservierungs-Gesellschaft StarTime eingefroren worden. Er hatte seinen Kopf den folgenden Zeitaltern vermacht, in der Hoffnung auf eine rein weltliche Unsterblichkeit.
Ich besuchte die Eisgrube und fuhr mit dem Aufzug in die Kammer. Die Stolbart und Cailetet-Davis waren endlich zurückbeordert worden, doch sie hatten ihre Ausrüstung dagelassen, da der Rückruf nur vorläufig und abhängig von der weiteren Entwicklung des Projekts war.
Rho war im elementaren Umgang mit einigen der Gerätschaften unterrichtet worden. Sie konnte die Aufzeichnungen, die bereits angefertigt worden waren, ablaufen lassen, und sie brachte mit einiger Mühe grobe Umsetzungen anderer Muster zustande.
Wir saßen in fast ununterbrochenem Schweigen da, auf der Stahlabdeckung hockend. Rho fluchte hin und wieder, während sie mit den Geräten zugange war.
»Ich muß einiges neu auswerten«, sagte Rho. »Die Übertragungen sind nicht einwandfrei.«
Wir belauschten Kimon Thierrys letzte paar Minuten bewußter Erinnerung. Es gab bis jetzt noch keine visuelle Umsetzung. Die Laute, die aus den Geräten drangen, waren verzerrt, die menschlichen Stimmen kaum als solche erkennbar.
»Mr. Thierry, eine… [knisterndes Rauschen]… langjährige Freundin von Mrs. Winston…«
»Wir meinen, daß er am Telefon spricht«, erklärte Rho.
»Ja, ich kenne sie. Was will sie?«
Das war Thierry selbst, der laut sprach, so wie sich seine Stimme im Inneren seines Kopfes anhörte: tiefer und hallender.
»Sie fragt nach dem [unverständlich] Logos-Treffen im Januar. Wird es dort zu einer XYZ-Seelenzwiesprache kommen?«
»Ich sehe keinen Grund, warum das so sein sollte. Wer ist sie? Wieder mal so eine Hexe vom Staten-Island-Hilfscorps, ja?«
»Nein, Sir, sie ist eine hochkarätige Beitragszahlerin. Sie hat im September ihre fünf Kinder zum Taos Logos-Campus gebracht…«
»Nur alltägliches Geschäft«, mutmaßte Rho. Sie stützte das Kinn auf die Hände, im Lotussitz am Boden kauernd, die Ellbogen auf den Knien, wie sie meiner Erinnerung nach oft als junges Mädchen dagesessen hatte. Sie sah mich mit einem Ausdruck an, als wollte sie sagen: hab Geduld, es kommt noch was.
»Sag ihr, eine Seelenzwiesprache erfordert eine Menge geistiger Energie von mir. Wenn ich ein XYZ abhalten soll, brauchen wir zehn neue Beitragszahler, alle von der hochkarätigen Sorte. Es erfordert sehr viel Energie, mit den verlorenen Göttern Verbindung aufzunehmen.«
Selbst durch seinen eigenen Filter hörte sich Thierry nicht
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