Koerper, Seele, Mensch
eingewiesen wird. Ich ahne schon auf dem Weg zum Untersuchungsraum, was gleich auf mich zukommen wird, weil die Krankenschwester bereits über den Vater der Patientin geschimpft hat, der partout nicht im Warteraum Platz nehmen wollte, als das Mädchen sich für die Mutter als begleitende Angehörige entschied.
Zunächst werden meine Erwartungen aber nicht erfüllt: Im Untersuchungszimmer ist es ruhig, die Mutter sagt außer der üblichen Begrüßung nichts, so daß ichmich gleich der Patientin zuwenden kann. Auf der Untersuchungsliege liegt ein eingeschüchtertes mageres Wesen mit braunen fettigen Haaren und einem Gesicht voller Pubertätspickel und schaut mich ängstlich an. Bauchschmerzen habe sie seit sechs Wochen, erbrochen habe sie nicht, Stuhlgang und Wasserlassen bereiteten ihr in der fraglichen Zeit keine Probleme, früher habe sie aber schon einmal eine Nierenbeckenentzündung gehabt. Der Bauch ist weich, im Unterbauch finden sich links und rechts offenbar gleich starke Schmerzen. Das ist allerdings nicht ganz eindeutig festzustellen, da ich das Mädchen immer wieder auffordern muß, mir zu sagen, wann die Untersuchung schmerzhaft sei; wenn sie nur gelegentlich das Gesicht verziehe, könne ich mir kein Bild machen. Besonders gründlich untersuche ich die ableitenden Harnwege. Nierenlager, Harnleiterverlauf und Blasenregion sind aber gänzlich beschwerdefrei.
Nach der körperlichen Untersuchung erfolgt die Blutentnahme, auch den Urin lasse ich aufgrund der Anamnese im Labor ausführlich untersuchen. Anschließend erläutere ich dem Mädchen und der bis dahin ganz im Hintergrund gebliebenen Mutter meinen Befund und rate von einer Operation ab; die Schmerzen hätten mit dem, was landläufig als ›Blinddarm‹ bezeichnet wird, nämlich eigentlich mit dessen Wurmfortsatz, der Appendix, nichts zu tun, da ich aber im Moment auch keine schlüssige Erklärung anbieten könne, würde ich sie bitten, am Abend desselben Tages nochmals zu einer Kontrolluntersuchung zu erscheinen. Kaum habe ich geendet, beginnt die Mutter die Patientin, die jetzt einen noch verstörteren und verängstigteren Eindruck macht, wie ein kleines Kind anzuziehen; sie ist sichtlich wütend, undmurmelt, daß sie selbst vor vielen Jahren, als sie noch jung war, auch viermal weggeschickt worden sei; dann habe man sie um Mitternacht operieren müssen, der ›Blinddarm‹ sei schon fast geplatzt gewesen. Als das Mädchen fertig angezogen ist, dreht sich die Mutter zu mir um und schaut mir ins Gesicht: »Ihr Ärzte wißt doch immer alles besser.« Es entsteht ein Disput, ich werde ebenfalls ärgerlich und lasse mich zum Schluß zu der Bemerkung hinreißen, daß über die stationäre Aufnahme noch immer ich zu entscheiden hätte; falls meine Entscheidung der Mutter nicht gefalle, könne sie ja ein anderes Krankenhaus aufsuchen oder sich in der kinderchirurgischen Sprechstunde anmelden. Sichtlich aufgebracht verläßt die Familie schließlich die Klinik. Die Tochter hat während der ganzen Auseinandersetzung kein Wort gesagt.
Am nächsten Morgen erfahre ich, daß das Mädchen – wieder in Begleitung beider Eltern – gegen 18 Uhr erneut in der Ambulanz erschienen war. Am darauffolgenden Tag wird sie ins OP-Programm der Kinderchirurgischen Klinik eingeschoben, nachdem die Eltern mit ihr bereits seit halb acht Uhr morgens im Wartezimmer gesessen und nach dem Chefarzt verlangt haben. An der Appendix und im übrigen einsehbaren Abdomen finden sich keine frischen, auch keine älteren Entzündungszeichen oder sonstigen pathologischen Befunde. Der Pathologe stellt, wie üblich, die Diagnose: »Chronische Appendizitis mit subakutem Schub«.
Zwar ist die Tochter die Patientin, aber sie schweigt. Die Mutter hat ihre eigenen Sorgen, und sie handelt. In diesem Familiensystem kommt der Vater nur selten und dann auch nur kurz zum Zug, nämlich wenn die Durchsetzung des Operationswunsches ansteht.
In einem anderen, ganz ähnlich gelagerten Fall geht es um eine 15jährige, die – ebenfalls an einem Montag – mit der Diagnose »chronisch-rezidivierende Appendizitis« eingewiesen wird. Im Untersuchungszimmer stehen neben der Liege, auf der ich das Mädchen vorfinde, ein Koffer und ein tragbarer Fernseher, darüber liegt ein Bademantel. Am Kopfende der Liege steht eine etwas dickliche 40jährige Frau, nervös und leicht schwitzend, die Mutter der Patientin. Sie beginnt zu sprechen, kaum daß ich das Zimmer betreten habe: Was denn das jetzt hier noch solle? Der
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