Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Hontschik
Vom Netzwerk:
Hausarzt sei schon seit einem halben Jahr vergeblich dabei, die Schmerzen »wegzumachen«, jetzt müsse der Blinddarm endlich raus, das Kind trete nach Weihnachten eine Lehrstelle an, bis dahin müsse alles in Ordnung sein.
    Nachdem ich vorsichtig erwidert habe, daß wir in der Chirurgie eher selbständig und nach chirurgischen Kriterien entscheiden, wer operiert werden muß und wer nicht, merke ich doch rasch, daß hier mit Vorsicht nichts zu gewinnen ist. Während ich das ›Kind‹ untersuche, redet die Mutter ununterbrochen weiter. Es ist kein besonders hübsches Mädchen, aber im Gegensatz zur Mutter hat sie einen gewissen körperlichen Liebreiz; es kommt mir fast ein bißchen lächerlich vor, von einem Kind zu sprechen. Von ihrer Mutter wird sie allerdings so behandelt: Frage ich die Patientin, seit wann sie denn die Bauchschmerzen habe, antwortet die Mutter sofort: »Seit einem Jahr!« Frage ich die Patientin, wo im Bauch denn die Schmerzen seien, sagt die Mutter prompt: »Rechts unten, rechts unten!« Die Tochter schweigt. Ich habe fast das Gefühl, daß sie interessiert beobachtet, wie denn der beginnende Machtkampf zwischen mir und ihrer Mutter ausgehen werde.
    Als ich die stationäre Aufnahme zur Operation ablehne,löst das bei der Patientin einen eigenartig enttäuschten Gesichtsausdruck aus. Ich komme gar nicht dazu, meine Entscheidung zu erklären, denn die Mutter verlangt bereits den Einweisungsschein zurück: Sie gehe jetzt in ein anderes Krankenhaus, vielleicht gebe es ja dort noch Ärzte, die den Kranken helfen wollten, wofür habe man jetzt fast drei Stunden hier herumgesessen!? Rasch sind alle Sachen zusammengepackt, und die Mutter verläßt wütend den Raum, die Tochter folgt.
    Am nächsten Morgen berichtet der diensthabende Oberarzt in der Besprechung von einer nächtlichen Appendektomie bei einem 15jährigen Mädchen, das am Abend mit seiner Mutter in die Ambulanz gekommen sei. Die Mutter habe gleich nach dem Chefarzt verlangt und mit der BILD -Zeitung gedroht, die bestimmt gern über ein Krankenhaus berichten werde, in dem man den Kranken nicht helfe. Der Oberarzt meinte, er habe sich im Interesse unseres guten Rufs zur Operation entschlossen, außerdem werde das Mädchen nach dem Eingriff bestimmt keine Bauchschmerzen mehr haben, das sei in diesen Fällen immer so.
    Die Diagnose des Pathologen lautet: »chronische Appendizitis«. Es ergibt sich dasselbe Bild wie im vorigen Fall: eine schweigende Tochter, eine kämpfende Mutter, ein nachgiebiger Arzt. Es wird operiert. Aber was wird da operiert?
    Bei statistischen Auswertungen eines Operationsjahrgangs in meinem damaligen Krankenhaus traten folgende verblüffende Ergebnisse zutage: Obwohl normalerweise etwa zwei Drittel der an akuter Appendizitis Erkrankten männlichen Geschlechts sind, wurden in unserer Klinik,wie übrigens in allen anderen auch, zu mehr als zwei Dritteln Frauen, und hier in erster Linie Mädchen, appendektomiert. Die Mädchen und jungen Frauen, die schweigend der Auseinandersetzung zwischen Mutter und Chirurg beiwohnten, tauchten etwa zehnmal häufiger an Montagen in der chirurgischen Ambulanz auf, als dies nach dem statistischen Zufall zu erwarten gewesen wäre. Die untersuchenden Chirurgen waren zu etwa 20 Prozent häufiger junge männliche Chirurgen, als dies ihrem Anteil am ärztlichen Ambulanzpersonal entsprach. Vorsichtig formuliert: Junge männliche Chirurgen wiesen eine erhöhte Affinität zu jungen weiblichen Patientinnen mit Unterbauchschmerzen auf. Die Fehldiagnoserate bei diesen Mädchen und jungen Frauen betrug ca. 70 Prozent, während sie bei allen männlichen Patienten und bei Frauen sonstigen Lebensalters mit etwas über 20 Prozent der unvermeidbaren krankheitsimmanenten Fehldiagnoserate (10 bis 15 Prozent) nahekam. Während die Fehldiagnoserate in der Zeit des Bereitschaftsdienstes nur etwa 20 Prozent betrug, schnellte sie in der normalen Arbeitszeit auf fast 60 Prozent.
    Eine Fehldiagnoserate von rund 15 Prozent ist bei der Diagnose Blinddarmentzündung, die bis heute mit keinem Mittel wirklich sicher festzustellen ist, unvermeidlich. In unserer Statistik aber ging es um Fehldiagnoseraten von über 60 Prozent, die nur weibliche Jugendliche betrafen. Es konnte sich also nur um ein Problem der Familiendynamik, des Familiensystems, und um ein Problem des ärztlichen Umgangs damit, also sozusagen des chirurgischen Systems, handeln. Mit dem simplen (trivialen) Maschinenmodell der Schulmedizin kann man diese

Weitere Kostenlose Bücher