Koerper, Seele, Mensch
Fälle nicht verstehen. Es ist leicht zu erkennen, daß sichder tragische Verlauf der Fallgeschichten aus der Tatsache ergibt, daß es zwischen Arzt, Patient und Angehörigen nicht zu einer Verständigung über eine gemeinsame Wirklichkeit kommt. Denn die Schulmedizin nimmt gar nicht zur Kenntnis, daß es so etwas wie individuelle Wirklichkeiten überhaupt gibt. Würden die Beteiligten davon ausgehen, daß die subjektive Wirklichkeit der Patientin aus ihrer pubertären Lebenskrise und die subjektive Wirklichkeit der Mutter aus ihrer ins Wanken geratenen Familienkonstruktion erwächst, während die subjektive Wirklichkeit des Arztes im Aufspüren und Beseitigen von organischen, ›technischen‹ Schäden besteht, dann wäre vielleicht schnell geklärt, daß hier ein Zusammenpassen, eine kommunikative Passung der Konzepte nicht möglich ist. Krisen kann man nicht operieren.
In dem Moment aber, wo die individuelle Wirklichkeit jedes einzelnen Individuums in den Mittelpunkt rückt, wäre Kommunikation notwendig. Jedes Lebewesen konstruiert sich seine Umwelt, in der es (über)leben kann; es gibt ebenso viele Welten, wie es Lebewesen gibt; und in jeder dieser Welten wird mit Hilfe von Zeichen kommuniziert. Das anzuerkennen würde eine Revolutionierung der Schulmedizin bedeuten.
In den hier beschriebenen Fällen könnte das Nachdenken über subjektive Realitäten, über Passung und kommunikative Zeichen zum Beispiel so lauten: Es sind drei Personen beteiligt. Die beschriebene auffallende Regelmäßigkeit der Art ihres Aufeinandertreffens legt die Annahme nahe, daß die Bauchschmerzen der schweigenden Tochter, das zwingende Verlangen der aggressiven Mutter und das zwar ›defensiv‹ motivierte, letztlich aber doch ebenfalls aggressive, weil invasive Operieren des Chirurgenden Grundkonflikt dieser Dreierbeziehung widerspiegeln. Es gibt also Passungen und Passungsstörungen auf vielfältigen Ebenen: zwischen Mutter und Tochter, zwischen Mutter und Chirurg, zwischen Tochter und Chirurg, zwischen den Bauchschmerzen und dem Wurmfortsatz, zwischen den Bauchschmerzen und der Operation, zwischen Assistenzarzt und Oberarzt. Die Krise selbst ist eine durch Pubertät und Adoleszenz, also durch die erwachende eigenständige Sexualität der Tochter, ausgelöste Krise der gesamten Familie, die natürlich am Wochenende eskaliert und für die spätestens am Montag eine ganz bestimmte Sorte Mann als Ausweg gefunden werden muß.
Ein Eingriff in den Unterbauch kommt auf einer symbolischen Ebene einer sexuellen Handlung (Defloration mit Geschlechts- und Schwangerschaftskontrolle), einer Strafe, einer Kastration oder einer Beschneidung nahe; diese Symbolik macht das aggressive Element im Verhalten der Mutter deutlich, das ja nach der Operation immer eine Beruhigung erfährt. Die Mütter befinden sich gerade in einer Lebensphase, in der ihnen das Erfüllen des allgemein angestrebten weiblichen Ideals (jung, schlank, glatte Haut, sexuell ansprechend usw.) immer schwerer gemacht wird. Die schweigenden Töchter wiederum, die dieses Ideal erfüllen, sind an einer Absolution für die mit ihrem sexuellen Erwachen ausgelöste Familienkrise interessiert und nehmen die Operation quasi als gerechte Strafe in Kauf. Der Begriff des »Einschnitts«, der an jedem Übergang von einer Lebensphase in die andere zu verzeichnen ist, erhält damit noch eine ganz andere Bedeutung; man könnte diese Gedanken weiterspinnen, indem man eine solche Operation, so häufig ausgeführt wie beiuns, als zivilisierte Sonderform eines Initiationsritus auffaßte. Auf jeden Fall läßt sich angesichts dieser Töchter, die stellvertretend für ihren die ganze Familie betreffenden Adoleszenzkonflikt operiert werden, die Chirurgie hier als eine mißratene ›Familientherapie‹ oder, wie man es auch nennen könnte, als eine Psychotherapie mit dem Skalpell mißbrauchen.
Solche Überlegungen verändern die Handlungskonzepte und damit auch die Ergebnisse der Schulmedizin radikal: Mit einer Umstellung des Indikationskonzepts zur Appendektomie konnten wir in meiner damaligen Chirurgischen Klinik die Zahl der Appendektomien von 600 auf unter 150 im Jahr, also etwa auf ein Viertel, senken; sowohl mit den hohen Fehldiagnoseraten als auch dem hohen Anteil der jugendlichen Patientinnen hatte es damit ein Ende.
Eine entsprechende, immer wiederkehrende Fallkonstellation bei männlichen Jugendlichen gibt es in der Chirurgie nicht. Während Frauen sich in ihren Lebenskrisen – wenn sie sich
Weitere Kostenlose Bücher