Koerper, Seele, Mensch
denn in die Hände von Chirurgen begeben – mit Blinddarmoperationen, Gallenblasen-, Eierstock-und Gebärmutterentfernungen usw. grundsätzlich Eingriffen in den Bauchraum unterziehen, handelt es sich bei Männern, wenn überhaupt, eher um Operationen am Bewegungsapparat. Männliche Jugendliche sind überdurchschnittlich häufig Unfallpatienten, woraus sich eine Arbeitshypothese ergibt: So wie sich der abwegige Lösungsversuch der Adoleszenzkrise bei jungen Frauen über Bauchschmerzen und unnötige Blinddarmoperationen im chirurgischen Alltag abbildet, gibt es bei jungen Männern verwandte Vorgänge im Zusammenhang mit sportlichenGruppenaktivitäten oder dem Straßenverkehr. Dabei spielen Motorradunfälle eine besondere Rolle.
Eine solche Hypothese wird sowohl durch eigene Erfahrungen als klinisch tätiger Chirurg als auch durch soziologische Untersuchungen bestätigt; längst ist das Phänomen bekannt, daß männliche Jugendliche ihren eigenen Körper als Austragungsort für ihre adoleszenten Konflikte benutzen (vgl. King 2003). Neuere Expertisen über die Straßenverkehrssicherheit in Deutschland haben festgestellt, daß die 18- bis 23jährigen die zentrale Risikogruppe im Straßenverkehr darstellen und in dieser Altersgruppe fast 70 Prozent der Unfälle von Männern verursacht werden. Die meisten der schweren Unfälle mit tödlichen Folgen geschehen dabei am Wochenende. Daß sich eine solche Statistik in der unfallchirurgischen Arbeit widerspiegelt, ist selbstverständlich. Dabei ist der zuständige Chirurg manchmal fassungslos angesichts des Verhaltens und der Einstellung der Patienten. Ein Beispiel:
»Ein 16jähriger Schüler erwirbt von seinem Freund ein Mofa, weil dieser wegen unfallbedingten Beinverlustes auf die Weiterbenutzung des Fahrzeugs verzichten muß. Er selbst kollidiert bereits einige Wochen später mit einem Personenkraftwagen, dabei wird ein hinten aufsitzender Kamerad tödlich verletzt, während er selbst einen drittgradig offenen Oberschenkelbruch erleidet. Wegen nachfolgender Gasbrandinfektion muß eine sehr hohe kunstlose Oberschenkelamputation vorgenommen werden. Durch diesen Notfalleingriff und über längere Zeit hinweg sich erstreckende Behandlung in der Sauerstoffüberdruckkammer gelingt es, die Lebensgefahr abzuwenden. Nach der letzten Behandlung in der Sauerstoffüberdruckkammer erklärt die Anästhesistin gegenüber dem besorgtwartenden Vater, ›daß er es wahrscheinlich geschafft habe‹. Der Vater läßt dem Sohn durch die Anästhesistin ausrichten, wie glücklich er über diese Mitteilung sei. Antwort des gerade dem Tode Entronnenen: ›Mein Vater wird nicht mehr so glücklich sein, wenn ich ihn darum bitte meinen ›Bock‹ baldigst wieder in Ordnung bringen zu lassen.‹« (Börner u. a. 1982)
Die Adoleszenz ist eine Krise, aber per se noch keine Katastrophe, sondern zunächst nur ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Sie ist allerdings mit so starken körperlichen Veränderungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung verbunden, daß beim Aufbrechen von Konflikten oder gar Katastrophen in dieser Phase der Körper und seine Möglichkeiten ins Zentrum des Geschehens rücken. Im Fall des 16jährigen Mofafahrers liegt die Annahme nahe, daß es bereits vor dem Unfall schwerste biographische Brüche gegeben hat, die sein risikosuchendes Verhalten bestimmten und nach dem Unfall offenbar unverändert weiter bestanden, woran auch der Tod des Freundes und der Verlust eines ganzen Beins nichts wirklich ändern konnten. Solche jugendlichen Patienten hadern massiv mit ihrem Schicksal, nehmen es aber nicht in die Hand. Sie suchen nach Schuldigen für den Unfall, und wenn es diese nicht gibt, muß eben ein ›Ölfleck‹ am Unfallort als Erklärung herhalten. Diese Patienten sind im Krankenhausalltag eine Qual für das medizinische Personal. Sie sind ständig unzufrieden mit dem Heilverlauf, mit dessen Langsamkeit und Schmerzhaftigkeit. Nichts kann man ihnen recht machen. Sie sehen ihre Umgebung als feindlich oder aber, ob Ärzte, Schwestern, Physiotherapeuten oder Psychologen, als Versager an. Wie störrische Kleinkinder bestehen sie auf derPflicht der anderen, ihre Gesundheit wiederherzustellen. Ein eigenes Mittun ist ihnen dabei fremd. Gespräche über die neue Situation werden verweigert, auffallend häufig auch von der Familie des Verletzten, die viel Zeit am Krankenbett verbringt und typischerweise in die Klagen und Vorwürfe über die nicht ausreichende medizinische und
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