Koerper, Seele, Mensch
pflegerische Versorgung einstimmt.
Wenn sich dann herausstellt, daß der eigene Zustand, wie er vor dem Unfall war, nicht wiederhergestellt werden kann – etwa nach einer Beinamputation –, bestehen diese Patienten darauf, daß wenigstens das Motorrad repariert wird: als Zeichen einer scheinbar nach wie vor bestehenden Möglichkeit, das eigene Leben wie bisher fortzusetzen. Keinerlei Gedanken werden hingegen darauf verwendet, ob vielleicht die Wohnung umgebaut, der Arbeitsplatz gewechselt oder gar das ganze Leben mit den persönlichen Beziehungen geändert werden müßten.
Ein völlig anderer Verlauf einer derartigen Krise ist mir als ebenfalls typische, aber sehr viel hoffnungsvollere Fallgeschichte aus meiner Zeit als unfallchirurgischer Stationsarzt zu Beginn der achtziger Jahre in Erinnerung geblieben. An einem Morgen war ein Patient von der Intensivstation zu uns verlegt worden. Die Stationsschwester bedeutete mir, ich solle doch recht bald einmal nach ihm sehen. In dem Dreibettzimmer fand ich einen 19jährigen jungen Mann vor, schmächtig, immer wieder schluchzend, das rechte Bein in einem Extensionsgestell fixiert (Oberschenkelhalsfraktur), das linke Bein im oberen Unterschenkeldrittel mehrfach gebrochen und operiert (Verplattung und Verschraubung). Der linke Unterarm war ebenfalls gebrochen und, da man die Osteosynthese nicht stabil hatte durchführen können, noch im Gips. DerKörper war von Schürfungen und Rißwunden übersät, und besonders am Kopf und im Gesicht war eine Reihe von Defektwunden und Wundnähten zu sehen. Der Junge war wach und lag wie apathisch im Bett. Er war vor drei Wochen an einem Freitagabend allein mit dem Motorrad unterwegs gewesen und hatte einen Unfall ohne Fremdbeteiligung erlitten. An diesem Tag konnte ich mir zwar ein ›chirurgisches‹ Bild von ihm machen, aber er sprach nicht mit mir, antwortete nicht auf Fragen, auch nicht auf Fragen nach Schmerzen oder anderen Symptomen. Tröstenden Worten war er nicht zugänglich.
In den folgenden Tagen änderte sich diese Situation nicht. Die Wunden heilten langsam, ohne weitere Komplikationen. Die Extension konnte nach drei Wochen abgebaut und entfernt werden, ebenso wie der Gipsverband am Arm. Zum erstenmal konnte er sich auf den Bettrand setzen, die Krankengymnastik wurde intensiviert. Immer wieder erzählten mir Schwestern, Pfleger und Krankengymnastin, wie schwer es war, mit dem jungen Mann in Kontakt zu kommen. Er sprach zwar inzwischen, aber wenig, nur das Nötigste. Unter der Woche kamen manchmal seine Eltern vorbei, meistens nur die Mutter; sehr viel Besuch von jungen Leuten erhielt er dann aber an den Wochenenden, so daß sich seine Bettnachbarn über den ›Auflauf‹ schon beschwerten. Aber auch danach war er immer niedergeschlagen, bedrückt und in sich gekehrt.
Nach weiteren zwei Wochen, während eines recht ruhigen Nachtdienstes, mußte ich am späten Abend einem seiner Zimmernachbarn eine Spritze geben. Zum erstenmal sah ich den Jungen am Tisch sitzen. Ich gesellte mich zu ihm, was mir zunächst einen erstaunten Blick einbrachte,und fragte ihn nach seiner Arbeit, nach Familie und Freundin. »Sie können mir sowieso nicht helfen«, sagte er. »Ich kann aber zuhören.« Wieder dieser erstaunte Blick. Dann brach es aus ihm heraus. Er wohne noch zu Hause bei seinen Eltern, das dritte von vier Kindern, die Geschwister seien alle schon abgehauen. Sein Vater sei ein Despot und habe ihn gezwungen, eine Lehrstelle als Kfz-Mechaniker anzutreten, obwohl er immer Chemielaborant werden wollte. Seine Mutter sei dem ständigen Krach zwischen ihm und seinem Vater nicht gewachsen und dauernd krank. Er habe eine Freundin, aber die dürfe er nicht mit nach Hause bringen, sie sei noch nicht ganz 17 Jahre alt. Deswegen würden auch ihre Eltern »nix erlauben«. An dem Freitag, als das mit dem Unfall passiert sei, habe es gerade wieder großen Streit zu Hause gegeben, er sei auf dem Weg zu seiner Freundin gewesen, um mit ihr ins Jugendzentrum zu gehen.
Bei der Vorstellung, der Unfall hätte gar mit seiner Freundin auf dem Rücksitz passieren können, fing er immer wieder bitterlich an zu weinen und war gar nicht zu beruhigen. Die Mitpatienten, zwei etwa 40jährige Männer mit vergleichsweise einfachen Unfällen, mischten sich immer wieder ins Gespräch ein, wollten »dem Vater eins aufs Maul« hauen, trösteten ihn (»Sie hat doch gar nicht mit auf dem Bock gesessen, sei doch froh!«) und boten ihm Hilfe bei der Suche nach einer neuen
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