Koerper, Seele, Mensch
Lehrstelle an (»Du mußt dein Ding machen, den Alten mußt du abhängen, das war bei uns auch nicht anders damals!«). Als er dann noch erzählte, daß er sein Lehrlingsgehalt bis auf 150 Mark zu Hause abliefern müsse, so daß er nun nicht einmal genug Geld habe, um seine Freundin anzurufen, gaben ihm beide die Erlaubnis, ihr Telefon am Bett zubenutzen: »Warum hast du denn nicht schon früher mal was gesagt?«
Ich wurde zu einem Notfall gerufen und verabschiedete mich mit dem Hinweis, ihm vielleicht helfen zu können. Am nächsten Tag redete ich mit der Sozialarbeiterin unseres Krankenhauses, die versprach, sich darum zu kümmern. Bei den folgenden Visiten war der Junge mehr und mehr verändert, lächelte manchmal, ließ sich helfen, sagte Bescheid, wenn er etwas brauchte. Er telefonierte viel; zwar ließen die Besucherströme nach, aber seine Freundin sah ich regelmäßig.
Nach weiteren vier Wochen war das Bein endlich voll belastbar, und er konnte beginnen, ohne Gehstöcke zu gehen. Es traten keine chirurgischen Komplikationen auf. Als ich bei einer der letzten Visiten – er war jetzt schon fast drei Monate auf meiner Station – auf die bevorstehende Entlassung zu sprechen kam, stellte sich heraus, daß er inzwischen eine neue Lehrstelle hatte (als Chemielaborant) und vom Krankenhaus aus direkt in eine kleine Wohnung ziehen wollte, die er durch Vermittlung eines seiner Bettnachbarn gefunden hatte. Vor seinem Vater habe er keine Angst mehr. Er machte einen sehr ruhigen Eindruck, als ob er sich auf das freute, was nun auf ihn zukam.
Solche Fälle habe ich mehrfach erlebt. Der schwere Unfall, die Intensivstation, der lange Krankenhausaufenthalt, die schlagartige, unbeeinflußbare Veränderung des bisherigen sozialen Gefüges ermöglichen eine Art Katharsis und führen mitunter zu einer kompletten Neuorganisation des Lebens. Durch den Unfall wird der jugendliche Lebensentwurf auf katastrophale Weise dekonstruiert, und es folgt eine Neu-Konstruktion, in die die vielenPassungsstörungen, einschließlich derjenigen in der Familie und am Arbeitsplatz, radikal einbezogen werden. Die Frage liegt nahe, ob ein solcher Unfall auch Positives zu bewirken vermag. Die Antwort auf diese Frage könnte so lauten: Wenn der Unfall schon passieren mußte, dann möge er doch wenigstens zu einer Katharsis, zu einem positiven Neubeginn führen. Dazu muß der Patient auf Kräfte und Ressourcen zurückgreifen, die in ihm, aber auch in seiner gesamten Umgebung – bei den Bettnachbarn, in der Beziehung, bei seinem behandelnden Arzt – zu finden sein können.
Die Chance zur Katharsis kann allerdings auch ungenutzt verstreichen, insbesondere dann, wenn nur die chirurgische Wiederherstellung der trivialen Maschine Körper im Mittelpunkt der Behandlung steht und die Bearbeitung der psychosozialen Unfallfolgen gar nicht oder nur nebenbei von Interesse ist, aber auch dann, wenn die biographischen Voraussetzungen des unfallverletzten Jugendlichen – wie im ersten Fall – eine wie auch immer geartete Reflexion, wenigstens eine Nachdenklichkeit, gar nicht zulassen.
Für das typische Risikoverhalten in der männlichen Adoleszenz, in der kurzfristige Erlebnisse von Größe und Allmacht wichtiger zu sein scheinen als
Ängste vor den möglichen katastrophalen Folgen in Grenzsituationen, eignet sich die Bezeichnung Ikarus-Phänomen. Ikarus hatte bekanntlich die Warnungen
seines Vaters Dädalus ignoriert und war beim Fliegen der Sonne zu nahe gekommen, wodurch das Wachs, das die Federn seiner Flügel zusammenhielt, schmolz. Er
stürzte ab, fiel ins Meer und ertrank.
Die Schulmedizin, einschließlich der Chirurgie, kennt keinen besonderen altersspezifischen Umgang mit adoleszenten Patienten. Aus dem Konzept der trivialen Körpermaschine heraus kann ein solcher Umgang auch nicht entwickelt werden, obwohl er dringend nötig wäre – auch wenn nicht jedes adoleszente Mädchen am Wochenende Bauchschmerzen bekommt, um am Montag appendektomiert zu werden, und nicht jeder adoleszente Junge sich am Wochenende mit seinem Motorrad zum Krüppel fährt.
Ob es nach einem so einschneidenden Erlebnis wie dem Überleben eines durch Motorradunfall verursachten Polytraumas bei den betroffenen jungen Männern zu einer Fortsetzung des narzißtischen und selbstzerstörerischen Höhenflugs (›typisch männlich‹) oder zu einer Katharsis und einem Neuanfang kommt, hängt neben den individuellen und biographischen Voraussetzungen der Verunfallten sicher zum Teil
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