Koerper, Seele, Mensch
schwerer, meinen Beruf so auszuüben, wie es für meine Patienten am besten wäre. Eine derartige Entwicklung, der man sich zunächst ohnmächtig ausgeliefert fühlt, macht manchmal wütend, manchmal deprimiert, schließlich auch sprachlos. Aus diesem Unbehagen heraus habe ich im vorliegenden Buch meine Geschichte, meine Erfahrungen und meine Utopien im Zusammenhang mit der Medizin aufgeschrieben. Es soll kein neuer Ratgeber für Patienten und Angehörige sein, es sollen nicht noch mehr Fachwissen und »Wie funktioniert das?«-Erklärungen unter die Leute gebracht, nicht eine weitere, noch alternativere Methode vorgestellt werden; nicht noch ein Buch über Kunstfehler, erfundene Krankheiten oder die Medizinmafia, nicht noch ein Arztroman mit dem Sentiment des Schicksalsschlags Krankheit soll das werden.
Es geht mir vielmehr um das Unbehagen, das zur Zeit immer stärker anwächst, beim Arzt und beim Patienten. In deren Beziehung tritt eine zunehmende Sprachlosigkeit zutage; eine Untersuchung über die ärztliche Arbeit hat gezeigt, daß Hausärzte während der Sprechstunde im Durchschnitt schon nach wenigen Sekunden die Erzählung ihrer Patienten unterbrechen, um auf den Punkt zukommen. Aber was ist der Punkt? Haben Ärzte keine Zeit mehr? Oder wollen sie nicht sprechen, weil das nicht bezahlt wird? Oder wissen sie schon nach Sekunden besser als ihre Patienten, worum es geht?
Eine Medizin ohne Utopie und Ideale verkommt zu einem technischen, zu einem technisierten Reparaturbetrieb. Die Medizin muß sich an einer Theorie, an einer Leitidee orientieren, sonst ist es sinnlos, sie gegen Zerstörungstendenzen zu verteidigen. Was ist eigentlich die Ursache dieser Zerstörungstendenzen?
2. Globalisierung, Industrialisierung,
Entsolidarisierung:
Die Zerstörung der Solidarsysteme
Von einem ›banalen‹ Unterschenkelliegegips in einer chirurgischen Praxis bis zu immer neuen ›Gesundheitsreformen‹ oder gar einem ›Gesundheitsgipfel‹ im Bundeskanzleramt spannt sich ein wirklich großer Bogen, dessen Verlauf nicht leicht zu erkennen ist. Sogenannte Interessengruppen, Lobbyisten, Politiker und Funktionäre tun das Ihre, um die Zusammenhänge schwer durchschaubar zu machen, auch wenn man sie bei der täglichen Arbeit ständig spürt. Das Gesundheitswesen scheint sich aufzulösen. ›Gesundheit‹ ist angeblich nicht mehr bezahlbar. Die nicht mehr funktionierende Alterspyramide, die hohe Arbeitslosigkeit, die Zunahme von Erkrankungen und deren Behandlungskosten, die Kostenexplosion, die Privatisierung von Krankenhäusern, sogar von Universitätskliniken – immer neue Schlagwörter tauchen auf, immer neue Reformvorschläge machen den Betroffenen mehr Angst als Hoffnung.
Für welche Werte steht die Medizin in den westlichen Gesellschaften heute? Die Humanmedizin am Anfang des 21. Jahrhunderts und mit ihr unser Gesundheitswesen scheinen sich auf rasanter Fahrt zu befinden. Doch wohin geht die Fahrt?
Die Medizin kann sich auf eine jahrtausendelange Geschichte berufen. Aber ihre konkrete Ausübung im Alltag von Arzt und Patient spielt sich immer innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Vorgaben ab. Ob es sich nun um die Medizin bei Naturvölkern, im alten Ägypten oderin China, im Europa des Mittelalters oder des 19. Jahrhunderts oder um die moderne Medizin von heute handelt, die Unterschiede erklären sich nicht nur aus den großen wissenschaftlichen Fortschritten, sondern auch aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen. Die Rahmenbedingungen für die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit in unserer heutigen Gesellschaft kann man mit drei Stichpunkten zusammenfassen: Globalisierung, Industrialisierung und Entsolidarisierung.
Die globalen Veränderungen, die inzwischen kein noch so abgelegenes Dorf auf dieser Welt mehr unberührt lassen, betreffen in besonderer Weise die nationalen Sozialsysteme der Industrieländer Europas, also auch Deutschlands. Die Auswirkungen der Globalisierung kommen denjenigen entgegen, die die sozialen Sicherungssysteme endlich abbauen oder ganz zerstören wollen. Diese seien in der globalen Konkurrenzsituation nicht mehr finanzierbar; den weltweiten ökonomischen Zwängen könne unsere nationale Ökonomie nur standhalten, wenn die hohen Löhne und Lohnnebenkosten sich immer weiter in Richtung des Niveaus der sogenannten Niedriglohnländer bewegten. Neben diesen wirtschaftlichen Veränderungen wird aber außerdem – zum Teil offen und dreist, zum Teil verschämt und heimlich – ein Kurswechsel
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