Koerper, Seele, Mensch
gemeinsame Wirklichkeit aufbauen, eine Passung herstellen zwischen der eigenen und der fremden Wirklichkeit, ohne die es kein therapeutisches Weiterkommen und schon gar keine Heilung geben kann. Verschreibt sich der Chirurg aber jetzt weiterhin dem Konzept der trivialen Maschine, dann wird die Arzt-Patient-Beziehung, unabhängig von technischen Fertigkeiten dieses Arztes, scheitern; und damit ist das Scheitern der ganzen Behandlung vorprogrammiert. Ein solches Scheitern ist der Grund für verschiedene postoperative Komplikationen, von Wundheilungsstörungen über Chronifizierungen und Nachoperationen bis hin zur ›Psychiatrisierung‹ des Patienten aufgrund eines eintretenden psychosozialen Desasters, wenn er zum Beispiel nach einer Transplantation das fremde Organ weiterhin als fremd erlebt und nachhaltig psychisch erkrankt.
Die Kunst des Chirurgen besteht hier also darin, die aktuelle Situation des Patienten zwischen den beschriebenen Polen zu erkennen und sowohl das triviale als auch das nicht-triviale Modell so anzuwenden, wie es der Heilung des Kranken nützt. Er muß zwischen dem trivialen und dem nicht-trivialen Modell wechseln, wandern, frei schweben können. Dazu bedarf es noch anderer Fähigkeiten als der rein handwerklichen, die man genauso erlernen muß wie das eigentliche chirurgische Handwerk.
Deswegen ist es ein Irrweg, der die ganze Medizin in eine Sackgasse führt, wenn man die Psychosomatik als eigenes medizinisches Fach begreift, als Fach für die Spezialisten. Denn damit ist das Besondere am Menschen für den Rest der Schulmedizin verloren: die faszinierende individuelle Konstruktion von Wirklichkeit, die jedes Lebewesen leisten muß, um zu überleben, ganz besonders,wenn es erkrankt ist. Und noch etwas anderes geht dadurch verloren: die Kunst des Heilens, deren Voraussetzung die gelungene Beziehung zwischen Arzt und Patient ist.
In diesem Irrweg wird aber zugleich die Keimzelle einer neuen Medizin erkennbar: All das, was unter der Chiffre Psychosomatik aus der Schulmedizin abgetrennt worden ist, muß wieder in die Schulmedizin zurückkehren, und daraus kann dann die Integrierte Medizin entstehen. Wenn man sie betreiben will, dann ist es hilfreich, sich mit der Philosophie, der Theorie seiner Tätigkeit zu befassen, mit dem Dualismus und dem trivialen Maschinenmodell auf der einen Seite, mit dem Konstruktivismus, der Semiotik, der Systemtheorie und einem nichttrivialen Maschinenmodell auf der anderen Seite. Man muß wieder und wieder neu zu lernen beginnen und sich eine stets kritische und nachdenkliche Haltung gegenüber all den Konstruktionen bewahren, die eine gemeinsame Wirklichkeit zwischen Arzt und Patient, eine Passung, hergestellt haben. »The map is not the territory«, soll John Franklin 1819 gesagt haben, bevor er, ausgestattet mit den besten Land- und Seekarten der britischen Admiralität, die Nordwest-Passage in die Arktis verfehlte und zusammen mit 197 Mann ums Leben kam. Laborwerte, Röntgenbilder, Kernspintomographien, genetische Karten und neurobiologische Forschungen produzieren immer neue Landkarten, aber das Territorium bilden sie nur ab, sie sind es nicht.
Bei der Weiterentwicklung des Menschenbilds der Humanmedizin besteht das Problem also nicht darin, daß es keine Ideen dazu gäbe. Die herrschende Theorie ist diedualistische, mit deren Vorstellung vom Menschen als einer trivialen Maschine sich das Gesundheitswesen von einem Hort der Heilkunst zu einem profitorientierten Industriezweig transformieren läßt. Deswegen hält sich dieses längst überholte Modell, das heute nicht einmal mehr von Naturwissenschaftlern vertreten wird, gegen alle Versuche eines neuen Denkens. Solange sich aber diese notwendige Weiterentwicklung der Schulmedizin nicht durchgesetzt hat, bleibt die Psychosomatik eine unverzichtbare Notlösung – für Ärzte und für Patienten. Sollte es jedoch eines Tages zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin kommen, dann wird rasch klar werden, daß man die Psychosomatik, wie sie heute praktiziert wird, nicht mehr braucht; sie wird dann als das erkennbar werden, was sie ist: ein Synonym für Humanmedizin, für die Medizin für Menschen.
Nachdem aber die Ärzte zu Technikern erzogen worden sind, wie können sie nun als Ärzte handeln? Wie findet man zum Konstruktivismus und zur Zeichentheorie, zu der unverzichtbaren Gedankenbasis der Integrierten Medizin? Man muß, wie gesagt, noch einmal mit dem Lernen anfangen und sich mit Dingen beschäftigen, die im
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