Kohärenz 01 - Black*Out
wenn man lange genug still liegen blieb. Rehe. Eichhörnchen. Kragenhühner. Kaninchen. Seeadler.
»Liebes …«
Ihr Bruder Kyle und sie hatten oft im Wald gezeltet, an verborgenen Stellen. Dad hatte ihnen beigebracht, wie man ein Zelt aufstellte, ein altmodisches aus gewachstem Tuch, mit Zeltstangen und Heringen. Sie hatten geangelt und ihre selbst gefangenen Fische über dem Lagerfeuer gebraten. Sie waren im See schwimmen gegangen. Serenity hatte den Matsch und Schlick des Ufers zwischen ihren Zehen gespürt. Mücken hatten sie gestochen. Einmal hatte sie einen Wolf verjagt – zumindest war sie davon überzeugt, dass es ein Wolf gewesen war; niemand außer ihr hatte das Tier gesehen. Sie erinnerte sich an glutheiße Sonne und endlosen Schnee, an klirrende Kälte, geheimnisvollen Nebel und an erfrischenden Regen. Ihre Kindheit war ein einziges Abenteuer gewesen.
»Liebes … Man kann viel Schlechtes über deinen Vater sagen, und selbst wenn man übertreibt, würde das meiste davon stimmen – aber so etwas wie das würde er niemals tun. Er würde niemals jemanden töten.«
Serenity sah ihre Mutter an, die vor ihr in die Hocke gegangen war, sie an den Händen hielt und ihren Blick suchte.
Würde er nicht? Die Erinnerung kam wie ein Blitz, der für einen Sekundenbruchteil die undurchdringliche Dunkelheit zerriss: ihr Vater, wie er in einem Berg Müll stand, den irgendjemand achtlos in einen Wildbach gekippt hatte – verfaultes Zeug in Plastikverpackungen, geplatzte Batterien, rostige Dosen, Glasscherben. Wie er fluchte und schimpfte, mit bloßen Händen das Zeug aus dem Bachlauf schaufelte und sich an irgendetwas schnitt, dass er blutete. Wie er wütend sagte, manchen Leuten würd ich’s am liebsten mit dem Baseballschläger erklären.
»Meinst du?«, fragte Serenity.
Mom lächelte wehmütig. »Ich war mit deinem Vater zusammen, seit ich fünfzehn war. Ich kenne ihn. Ich kenne ihn wahrscheinlich besser als sonst irgendjemand auf der Welt.«
Serenity hob den Kopf, sah umher. Die Erinnerungen flossen wieder davon, dorthin vermutlich, wo sie sich die letzten zehn Jahre versteckt gehalten hatten. Sie war wieder hier, in ihrem heutigen Leben, saß in dieser Küche voll moderner Technik, die ihre Mutter wie aus Trotz heraus gekauft hatte, aber nie benutzte. Eine Mikrowelle mit gefühlten dreihundert Programmen. Ein Dampfgarer. Ein Espressoautomat. Der Riesenkühlschrank mit eingebautem Lagercomputer. Diese Küche war nicht mehr dunkel und geheimnisvoll, sondern hell, klar, sauber und immer so aufgeräumt, als käme jeden Moment ein Fotograf, der Bilder für einen Werbeprospekt schießen sollte.
»Wenn ich danach gefragt werde, in der Schule oder so …«, begann Serenity leise, »muss ich dann zugeben, dass er mein Vater ist?«
Mom musterte sie, zögerte merklich. Sag die Wahrheit, war stets ihre Ermahnung gewesen, ihr Motto, ihr Leitspruch. Sag immer die Wahrheit. Auch wenn es unangenehm ist, auf lange Sicht ist es das Beste.
»Es wird niemand fragen«, erwiderte sie. »Jones – das ist ein Allerweltsname.«
»Und wenn doch?«
Sie biss sich auf die Lippen. »Dann sag Nein.«
Auf eine eigentümliche Weise entsetzte dieser Rat Serenity mehr als alles andere, mehr selbst als die ungeheuerlichen Anschuldigungen gegen ihren Vater, die das Fernsehgerät ausgespien hatte.
Sie musterte ihre Mutter, die ihr so ähnlich sah, dass es Serenity manchmal vorkam, als blicke sie in einen Spiegel, der sie dreißig Jahre älter erscheinen ließ. Okay, Moms Mähne war dunkel, fast schwarz, während sie das sandfarbene Haar ihres Vaters geerbt hatte – aber ihre eigenen Locken waren genauso wild und schier nicht zu bändigen wie Moms. Und die Augen … Mom hatte große, ernste Augen, schwarz wie Brunnenschächte.
In manchen Momenten glaubte Serenity zu verstehen, warum sich Dad damals in Mom verliebt hatte.
»Warum hast du ihn damals verlassen?«, fragte sie. Es war lange her, dass sie ihre Mutter das gefragt hatte. Mom hatte ihr immer geantwortet, offen und ehrlich.
Aber irgendwie ahnte sie, dass es noch mehr Antworten gab als die, die sie schon kannte.
Mom wich ihrem forschenden Blick auch diesmal nicht aus. »Jeremiah hatte die Zukunft aufgegeben. Sie einfach abgeschrieben. Und das konnte ich nicht. Ich habe zwei Kinder. Ich muss glauben, dass es weitergeht.«
»Aber du hast ihn doch geliebt.«
Etwas wie ein Schleier legte sich vor die Augen ihrer Mutter. »Ja. Es hat mir das Herz zerrissen wegzugehen.«
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