Kohärenz 01 - Black*Out
Es war gespenstisch mitzuerleben, wie in der Schule alle über einen Mann redeten, der als Terrorist gesucht wurde, ohne zu ahnen, dass dessen Tochter direkt neben ihnen stand.
Serenity fühlte sich, als sei sie unsichtbar. Oder als sei die Schule ein riesiges Aquarium, durch das sie spazierte und zusah, wie die Wesen hinter den Glasscheiben ihre Münder auf- und zuklappten. Und sie begriff, dass einen Geheimnisse von anderen Menschen trennten: Wenn sie mit ihrer besten Freundin nicht über das, was sie bewegte, sprechen konnte – war es dann eine beste Freundin? Hatte sie überhaupt eine beste Freundin?
Mr Davey, ihr Englischlehrer, brachte eins von Dads alten Büchern mit, um über das Thema zu sprechen. Man könne, behauptete er, bereits aus diesem vor zehn Jahren erschienenen Text herauslesen, dass sein Verfasser auf dem Weg in den gewalttätigen Extremismus gewesen sei.
Das sorgte für großes Staunen. Die meisten im Kurs wollten kaum glauben, dass ein Terrorist, der Firmenkindergärten in die Luft sprengte, auch Bücher geschrieben haben sollte.
Mr Davey musste sein Exemplar herumgehen lassen. Die meisten fassten es nur mit spitzen Fingern an, manche schlugen es gar nicht auf, sondern reichten es so schnell wie möglich weiter, als fürchteten sie, sich zu infizieren.
Serenity duckte sich unwillkürlich. Sie hatte die Bücher ihres Vaters zu Hause im Regal stehen und kannte sie in- und auswendig.
»Ich lese euch einen Abschnitt aus einem Kapitel vor, das der Verfasser Die dunkle Seite der Informationstechnologie überschrieben hat«, erklärte Mr Davey. »Das wird euch interessieren. Es geht darin um eure Mobiltelefone. Jeremiah Jones hasst sie nämlich und würde sie euch am liebsten wegnehmen.«
Jemand rief: »Terroristenschwein«, und Serenity musste an sich halten, um nicht zusammenzuzucken.
Sie kannte die Passage. Natürlich. Mobiltelefone, so führte Dad aus, hätten die Eigenart, innerhalb kürzester Zeit zum Mittelpunkt des Lebens zu werden. Für die meisten sei das Mobiltelefon das wichtigste Gerät, das sie besaßen, vergleichbar allenfalls der Armbanduhr (die es oft ersetzte) oder einer Brille. Viele Menschen trügen es ständig bei sich, schalteten es so selten wie möglich aus und litten regelrecht, wenn es ihnen weggenommen wurde. Ihr Denken und Fühlen kreise, je länger, je mehr, um ihr Telefon, um seine Funktionen und seine Bedienung.
»›Hätten wir es nicht mit einem technischen Gerät, sondern mit einer chemischen Substanz zu tun, die konsumiert werden kann‹«, las Mr Davey vor, »›würden wir dieses Verhalten als Sucht bezeichnen.‹« Er grinste breit und sah in die Runde. »Er hält euch alle für Junkies. Was sagt ihr dazu?«
Die meisten kicherten oder schauten abfällig drein. Nur einer, ein magerer Junge namens Rupert Parker, fingerte sein eigenes Gerät aus der Hemdtasche, musterte es kurz und meinte dann nachdenklich: »Da hat er gar nicht so unrecht. Ich jedenfalls bin voll drauf.«
Mr Davey ignorierte diesen Einwand. Das Mobiltelefon, las er weiter, vermittle einem das Gefühl, jederzeit erreichbar zu sein und umgekehrt jeden, der einem wichtig sei, jederzeit erreichen zu können. Es verspreche einem damit, nie wirklich allein sein zu müssen – doch paradoxerweise nehme die Angst vor dem Alleinsein dadurch, dass man sie nicht mehr erfahre, zu! Es sei außerdem für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit wichtig, von Zeit zu Zeit mit sich allein zu sein, denn nur so könne man ein Gespür für sich selber entwickeln. Alle Meditationstechniken seien im Grunde nichts anderes als verschiedene Wege, Alleinsein zu erfahren; das Mobiltelefon damit gewissermaßen eine »Anti-Meditations-Maschine«.
Dank permanenter Erreichbarkeit lernten gerade junge Menschen kaum noch, Verabredungen zu treffen oder einzuhalten. Jede Vereinbarung würde wie selbstverständlich unter dem Vorbehalt getroffen, sie jederzeit durch einen simplen Anruf ändern zu können. Doch auf diese Weise verlerne man mit der Zeit, sich überhaupt konkrete Ziele zu setzen. Hätte man vor der Erfindung des Mobilfunks noch damit gerungen, sich wenigstens annähernd an seine Vorsätze zu halten, so fasse man seither gar keine mehr. Das Mobiltelefon lehre, nur aus dem Moment heraus zu handeln und nur kurzfristig zu denken. Es erziehe die Menschen zu idealen Konsumenten, die impulsiv kauften, was immer ihnen verlockend genug präsentiert werde.
An dieser Stelle klappte Mr Davey das Buch zu und begann
Weitere Kostenlose Bücher