Kohärenz 02 - Hide*Out
Erinnerung klafften Lücken, weil er in dieser Zeit in seinem Beruf aufgegangen war, mehr, als seiner Familie gutgetan hatte. Nach seinem Eindruck war Patricias Wandlung auf der Highschool passiert. Dass sie dort vielleicht die falschen Freunde gehabt hatte.
Nun ja und natürlich Marens Tod. Der unerwartete, plötzliche Tod seiner Frau, Patricias Mutter, hatte sie beide furchtbar getroffen. Und die Vorwürfe, die ihm Patricia gemacht hatte – dass er die Symptome doch hätte erkennen müssen, dass man noch etwas hätte machen können, wenn er Marens Beschwerden nur rechtzeitig ernst genommen hätte, dass er sie auf dem Gewissen hatte –, diese Vorwürfe machte er sich ja selber. Es war ein Schock gewesen, der ihrer beider Leben aus der Bahn geworfen hatte. Er hatte seinen Job in der Klinik aufgegeben und versucht »auszusteigen«, wie man so sagte. Seine Tochter hatte sich einem Mann an den Hals geschmissen, von dem jeder außer ihr gewusst hatte, dass er nicht der richtige für sie war.
Und nun saß sie hier, in der Einsamkeit.
Er parkte sein Auto neben dem ihren, stieg aus und ging mit schweren Schritten auf das Haus zu. Insekten aller Art umschwirrten die Lampe über der Haustür. Es gab keine Klingel, keine Glocke.
Es war auch keine nötig. Neal war noch drei Schritte vom Fuß der kleinen Holztreppe entfernt, die zum Haus hinaufführte, als ihm Patricia schon öffnete.
Sie musterte ihn schweigend. Ein wenig Verwunderung las er in ihrem Gesicht, aber auch, ja, Spuren von Freude. Sie betrachtete ihn, wie man eine angenehme Überraschung betrachtet.
»Mit dir hatte ich nicht gerechnet«, sagte sie schließlich.
War das nun doch wieder ein Vorwurf? Dass er sich nicht viel um sie gekümmert habe in letzter Zeit? Sie hatte ja recht, so recht… Obwohl er zu seiner Entschuldigung tausend gute Gründe hätte vorbringen können – das letzte Camp war ziemlich weit entfernt gewesen, man hatte ihn dort gebraucht und so weiter, und so weiter –, wusste er, dass das nur vorgeschobene Gründe gewesen wären. In Wirklichkeit hatte er sich nicht hergetraut. In Wirklichkeit hatte er es vermieden, überhaupt an seine Tochter zu denken, weil ihm das Zerwürfnis mit ihr auf der Seele lag und er keinen Weg sah, es zu beheben.
Wenn sie ihn nur verstehen könnte! Wenn er es nur schaffen würde, ihr seine Sicht der Dinge auf eine Weise darzulegen, die es ihr ermöglichen würde, die Sache von seinem Standpunkt aus zu sehen! Dann, so sagte er sich, dann würde sie nicht anders können, als ihm zu verzeihen. Weil sie dann erkennen würde, dass er sie trotz allem liebte, immer geliebt hatte.
Aber so zu reden, seine Gefühle mitzuteilen – das war ihm einfach nicht gegeben.
»Wir mussten das Camp auflösen«, erklärte er und breitete die Arme aus, in einer unwillkürlichen Geste der Wehrlosigkeit. »Die Bundespolizei. Sie sind uns auf den Fersen, haben uns irgendwie aufgespürt… Es ist uns nichts anderes übrig geblieben, als uns erst mal in alle Winde zu zerstreuen. Na ja und da dachte ich, vielleicht kannst du deinem alten Vater ein paar Tage Unterschlupf gewähren.«
Sie nickte bedächtig, schien nicht überrascht, weder von dem, was er berichtet hatte, noch von seinem Wunsch. Sie trat beiseite und sagte: »Komm herein.«
Neal Lundkvist zögerte. »Ähm… wäre es in Ordnung, wenn ich gleich eine Tasche mit ein paar Sachen aus dem Auto hole?«
»Ja, natürlich.«
Immerhin, sagte er sich, während er zum Wagen zurückeilte und seine kleine, inzwischen reichlich abgeschabte Reisetasche mit den nötigsten Sachen vom Beifahrersitz nahm, waren bereits mehrere Minuten vergangen, ohne dass ein böses Wort gefallen war. Damit hatten sie einen neuen Rekord aufgestellt.
Er holte noch einmal tief Luft, ehe er die Stufen zu ihrer Haustür hinaufging. Ruhe bewahren. Er wollte sich nicht zu früh freuen, aber die Hoffnung, dass sie wieder zueinanderfanden, wollte er auch nicht aufgeben.
Patricia war in der Küche, rührte in einem Topf. »Willst du mit uns essen?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Oh ja«, beeilte er sich zu sagen. »Sehr gern.« Tatsächlich merkte er erst jetzt, was für einen Hunger er hatte. Er war die ganze Strecke gefahren, ohne etwas zu sich zu nehmen. Er war zu angespannt gewesen, um seinen Hunger zu spüren.
Eric saß ruhig am Tisch, beobachtete ihn schweigend und mit kindlichem Ernst. Lundkvist strich ihm über den Kopf, unwillkürlich lächelnd. »Na, Eric. Willst du deinem Opa nicht Hallo
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