Kohl, Walter
Sechzigsten gehalten. Mit wenigen Schritten erreichte ich
den privaten Bereich. Ich ging durch das alte Schlafzimmer meines Vaters und
das ehemalige Schlafzimmer meiner Mutter. Der kleine Pool im Atrium war leer,
ich setzte mich nochmals in die kleine Küche, die meine Mutter 1983
eingerichtet hatte. Mein Rundgang dauerte vielleicht 20 Minuten, viele
Erinnerungen wurden wach. Doch dann war mir unmissverständlich klar:
Die Welt,
die dir so viele Schmerzen bereitet hat, wird nun zu einem Museum. Es ist
vorbei.
Das
anschließende Interview war eine spannende Erfahrung. Zum ersten Mal trat ich
aktiv auf die Bühne der Presse, die ich bisher immer so sorgfältig gemieden
hatte. Ich spürte, dass ich sehr wohl über so manches reden konnte, das tief in
mir begraben gelegen hatte, und dass dieses Sich-Öffnen mir guttat. Ja, ich
verspürte erstmals das Bedürfnis, Themen anzusprechen, die ich mit mir
herumgetragen hatte und die doch »tabu« gewesen waren. Das öffentliche Echo auf
das Interview zeigte mir, dass diese Entscheidung von vielen Menschen
verstanden wurde. Ich stand am Anfang eines neuen Weges, und ich fühlte, dass es
der richtige war.
Ganz
anders mein Vater, wie sich zeigen sollte. Seit der Hochzeit hatte ich keinen
Kontakt mehr mit ihm gehabt, aber ich wollte noch einen Klärungsversuch
unternehmen. Silvester 2008 besuchte ich ihn in Oggersheim, um mich mit ihm
auszusprechen. Doch unser Gespräch geriet zu einem Fiasko. Er war sehr zornig
über mein Interview. In seinen Augen war es wohl eine bodenlose
Unverschämtheit, dass ich mich öffentlich äußerte.
Mein Vater
verfügt über große politische Könnerschaft, aber er ist nicht frei von
Unsicherheiten im persönlichen Umgang. Diese Mischung führt immer wieder zu
ungewöhnlichen Verhaltensweisen und Umgangsformen, deren Bedeutung sich
manchmal erst auf den zweiten Blick erschließt. Wenn er früher mit mir über die
Frage diskutierte, was einen erfolgreichen Politiker ausmache, führte er gern
den amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman an. Ganz offen zog er dabei eine
Parallele zu sich selbst. Er sagte sinngemäß:
»Harry S.
Truman kam aus dem Nichts, niemand nahm ihn anfänglich ernst. Als er im Amt
war, hat er vieles falsch gemacht, doch die wichtigen Dinge, die hat er gut
gemacht. Deshalb gehört er für mich zu den größten US-Präsidenten überhaupt.
Ich würde mich freuen, wenn ich später einmal so wie Harry S. Truman betrachtet
würde.«
Dem habe
ich, was sein politisches Wirken betrifft, nichts hinzuzufügen.
Meine
Sicht auf den Privatmann Helmut Kohl ist eine ganz andere und - das liegt in
der Natur der Sache - eine sehr spezielle. Privatissime prägt ihn eine tief greifende Unsicherheit. Um diese zu beherrschen,
teilt mein Vater die Menschen in zwei Gruppen: die »Kohlianer« und die
»Nicht-Kohlianer«, ein Begriff, der ganz offen am Küchentisch verwendet wird.
Jeder wird nach einer ganz bestimmten Frage beurteilt, auch wenn diese so gut
wie nie ausgesprochen wird:
Bist du für
mich - oder bist du gegen mich?
Die
Antwort gibt nur Helmut Kohl selbst. Je nachdem, wie sie ausfällt, wird der
betreffenden Person eine Position in Nähe oder Distanz zu ihm zugeteilt.
Und was
macht den Kohlianer in Helmut Kohls Privatleben aus? Nun, er muss im Prinzip
genau die gleichen Merkmale haben wie ein Kohlianer im politischen Leben. Ein
Kohlianer ist ein Mensch, der Helmut Kohls Führungsanspruch bedingungslos
akzeptiert. Somit wird sichergestellt, dass auch dieser Mensch ihm nie
gefährlich werden kann, privat wie politisch. Wie alle Kontrollmenschen treibt
meinen Vater die Sorge um, dass Charaktere, die sich nicht von ihm beherrschen
lassen, für ihn zu einem persönlichen Risiko werden könnten. Dem gilt es
umfassend vorzubeugen, namentlich durch ein ausgefeiltes Frühwarn- und
Informationssystem: das berühmte »System Kohl«.
Wer die
Spezies des Kohlianer ausschließlich im ideologischen Lager eines political
animal, wie es im Buche steht, verortet, der kennt meinen Vater
schlecht. Ideologie war ihm stets suspekt. Das Credo, dem seine loyalen Knappen
zu folgen haben, ist vollständige persönliche Identifikation. Das gilt aber
nur für die Beziehungsebene, auf der Inhaltsebene ist mein Vater, so
überraschend dies klingen mag, ein zutiefst liberaler, ja fast unideologischer
Mensch. Er kann andere Meinungen, politischer oder privater Natur, nicht nur
problemlos akzeptieren, er hat sogar seine Freude am spielerischen Umgang
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