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Kohl, Walter

Kohl, Walter

Titel: Kohl, Walter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leben oder gelebt werden
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davor fliehen, dich mit dem Thema auseinanderzusetzen? So sprach
mein Gefühl.
    Es war ein
heftiger, aber kurzer Kampf. Ich traf meine Entscheidung aus dem Bauch heraus
und sagte zu. Damit hatte ich mir selbst Druck erzeugt und setzte eine für mich
neue Erfahrung in Gang. Jetzt war zugesagt, jetzt war ich gefordert. Einige
Tage später war es dann schon so weit.
    In der
zweiten Hälfte der Veranstaltung bat mich der Moderator Dieter Thomas Heck auf
die Bühne. Im Saal wurde es still, als ich hinters Rednerpult trat. Ich
nestelte etwas nervös an meinem Manuskript, und als ich erstmals aufblickte,
ins Publikum hinein - sah ich buchstäblich ins Nichts. Schräg von unten,
unmittelbar vor mir, blendete mich ein starker Scheinwerfer. Und zwar so stark,
dass für mich der ganze Saal mit allen darin befindlichen Menschen unsichtbar
wurde. Ich war perplex. Aber dann blickte ich nach rechts. Dort sah ich auf ein
überlebensgroßes, farbiges Porträtbild meiner Mutter, nur wenige Meter
entfernt. Sie schien mich direkt anzublicken, mit ihrer so typischen Mischung
aus Liebe und Strenge. In diesem Moment wurde mir ganz warm ums Herz. Ich vergaß,
dass ich vor Hunderten von Menschen stand, die ich nicht sehen konnte, denn für
mich gab es hier jetzt nur noch das Bild mit meiner Mutter.
    Ich
begrüßte die Gäste im Namen der Familie, dankte den Organisatoren und den
Sponsoren des Abends. Doch dann tat ich etwas, das mich selbst überraschte. Ich
legte mein sorgfältig ausgearbeitetes Redemanuskript zur Seite, blickte für
einen langen Augenblick meiner Mutter in die Augen, holte tief Luft und fing
an, frei zu sprechen. Ich sprach aus dem Gefühl des Augenblicks heraus: über
meine Mutter, über ihr Lebenswerk, ihre Leistungen, ihre Stärken, aber auch
über so manche ihrer Schwächen und Marotten. Dabei verflog meine ganze
Nervosität, ich wurde ruhiger und ruhiger, fast vergaß ich, wo ich mich befand.
    Immer
wieder blickte ich in das Gesicht meiner Mutter, sah in ihre Augen. Es war, als
ob ich in ihrer wirklichen Gegenwart spräche, in enger Verbundenheit und
unmittelbarer Nähe. Die Worte kamen von tief innen, sie fanden ihren Weg, ohne
dass ich einen einzigen Gedanken an mein Manuskript verlieren musste. Ich
sprach ganz frei, es ging plötzlich wie von selbst. Meine Rede folgte ihren
eigenen Pfaden, sie floss förmlich aus mir heraus. Ich sprach so, als ob meine
Mutter neben mir stünde und mich mit ihrem pfiffigen und zugleich fordernden
Lächeln betrachtete. Ich denke, ich vermied kein einziges Thema. Ich sprach
über ihr Vermächtnis als Frau, als Mutter und als Stifterin, ich sparte auch
kritische Themen wie ihren tragischen Tod nicht aus.
    In mir
entstand eine neue, bisher ungekannte Ruhe, ein hohes Maß an Frieden und
Dankbarkeit. Ich spürte Wärme und Konzentration. Äußerlich stand ich auf der
Bühne eines großen Saals, mitten in meiner Heimatstadt, mitten in der Welt, in
der ich mit meiner Mutter als Kind und Schüler gelebt hatte. Innerlich spürte
ich Leichtigkeit und einen warmen Balsam, der sich wohltuend in mir
ausbreitete. Zum ersten Mal fühlte ich, wie der alte Schmerz wie auf einer
Wolke aus meinem Herzen auszog. Mir wurde immer leichter, ich musste lächeln,
ich begann mich zu freuen. Eine schwere Last rutschte langsam von mir ab, wie
ein Schneebrett am Berg.
    Am Ende
meiner Rede tauchte ich wieder in den Saal ein. Ich spürte die aufmerksame
Stille meiner Zuhörer. Ich spürte, wie sie meinen Worten folgten, ich spürte
nun eine starke Verbindung auch mit diesen Menschen. Ich endete und ging an
meinen Platz zurück. Die Menschen erhoben sich von ihren Sitzen und spendeten
mir heftigen Applaus. Ich hörte diesen Beifall, nahm ihn wahr, doch blickte ich
zunächst immer wieder auf das Bild meiner Mutter. Jetzt fiel eine riesengroße
Last von mir ab. Ich sah in ihr Gesicht und lachte befreit.
    Mama, jetzt
stehe ich an deiner Stelle, jetzt trage ich deinen Geist weiter.
    Mit diesem
Gedanken, in diesem Moment, begann der Schmerz über ihren Tod in mir zu
verlöschen.
    Eine
rührselige Geschichte? Meinetwegen. Ich schäme mich dessen nicht, denn diese
Geschichte beschreibt meine innere Öffnung und den Beginn eines neuen Umgangs
mit einer der größten Herausforderungen in meinem Leben. So, wie ich es erlebt
habe.
    Warum
spreche ich hier von Öffnung und nicht von Selbstüberwindung? Gewiss, ohne
Selbstüberwindung hätte ich wohl abgesagt. Doch Selbstüberwindung ist nur das
Sprungbrett, um in die innere

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