Kohlenstaub (German Edition)
sehr kalt. Jetzt, in den späten Nachmittagsstunden, kühlte es noch weiter
ab. Wenn ich mich beeilte, schaffte ich es noch bei Tageslicht durch den Westpark
bis zu meinem Pfarrhaus am Rande der Dortmunder Innenstadt.
Kräftig schritt
ich aus. Vereinzelt zwitscherten Vögel in den Bäumen, doch ich begegnete nur
wenigen Spaziergängern. Die Wege waren menschenleer. Ob es am ungemütlichen
Wetter lag oder daran, dass Borussia Dortmund spielte?
Als ich mich der
Möllerstraße näherte, vernahm ich Stimmen. Vor meinem Pfarrhaus stand eine
Gruppe von Jugendlichen. Durch ihre schwarz-gelben Schals waren sie als
Borussenfans erkennbar.
»Wie ist es
ausgegangen, Manni?«, wandte ich mich an den Einzigen aus der Runde, den ich
kannte.
»Sieg!«, rief
Manni begeistert. »Vier-zwei gegen Nürnberg! Dieses Mal holen wir den Pokal!«
»Klar, nach der
Pleite im letzten Jahr sollte es jetzt klappen!«
»Borussia hat in
letzter Zeit immer gewonnen. Vor allem gegen Schalke.«
Manni verzog das
Gesicht. »Nur nicht gegen den Meidericher SV .«
Einer seiner
Kumpel spuckte aus. »Pah. Wer ist schon der Meidericher SV ?
Borussia wird Meister!«
»Borussia wird
Meister«, wiederholten die Umstehenden im Chor, allesamt etwa in Mannis Alter
und in dem unbeholfenen Entwicklungsstadium zwischen Junge und Mann. Einer
ragte heraus. Er war größer, kräftiger und vermutlich auch älter. Ich schätzte
ihn auf Anfang zwanzig.
Mannis Vater, Herr
Jankewicz, stand mit zwei weiteren Männern ein Stück entfernt. Sie hielten
Bierflaschen in der Hand. »Warst du mit deinem Vater im Stadion?«, fragte ich
Manni.
»Nee«, antwortete
er. »Wir sind lange vor dem Spiel hin. Da gibt es nämlich einen Trick. Wenn man
früh genug da ist, lassen sie einen umsonst rein.« Manni kickte bei den
Amateuren und träumte davon, später sein Idol Wosab im Sturm zu ersetzen. »War
ein tolles Spiel«, fuhr er fort. »Gleich am Anfang ein Treffer von Emmerich.
Dann das Zwei-Null von Konietzka!«
»Aber dann hat der FC Nürnberg in der zweiten Halbzeit aufgeholt,
zwei-zwei!«, ergänzte einer seiner Kumpel. »War am Schluss wirklich knapp.
Drei-zwei für Dortmund in der zweiundsiebzigsten Minute! Und dann noch mal
Konietzka in der fünfundsiebzigsten Minute …«
»Ende gut, alles
gut«, fasste ich zusammen.
»Jau! – Borussia
wird Meister!«, skandierte Manni erneut.
»Borussia wird
Meister!« Dieses Mal antworteten auch die erwachsenen Männer. An ihren
undeutlichen Stimmen erkannte ich, dass das Bier in ihrer Hand nicht das erste
an diesem Nachmittag war.
Oh weh, dachte
ich, das riecht nach Ärger. Und ich würde ihn hautnah mitbekommen, denn die
Familie Jankewicz bewohnte seit einigen Wochen das untere Stockwerk im Pfarrhaus.
In diesem
Augenblick erklangen die Kirchenglocken. Sie läuteten das Osterfest ein.
»Rosi«, sagte ich
später am Telefon zu meiner Amtsschwester, die gleichzeitig meine Freundin und
Vertraute war, »die Jankewicz’ unten streiten schon wieder.«
Ich hörte eine
dunkle Stimme, die im Verlauf der Auseinandersetzung anschwoll, und eine helle,
weinerlich klingende, die sich höher und höher schraubte.
»Streiten sie nur
oder schlagen sie sich auch?«, fragte Rosi zurück.
»Woher soll ich
das wissen?«
»Hörst du noch
etwas außer den Stimmen?«
Ich wollte gerade
Nein sagen, da polterte es im unteren Stockwerk, als stieße jemand Tische und
Stühle um.
»Rosi, das wird
mir langsam unheimlich!«
»Geh runter und
sag, sie sollen aufhören!«
»Ich kann mich
doch nicht einmischen!«
»Frag, ob sie dir
mit ein paar Eiern aushelfen können.«
»Eier habe ich
gestern gekauft.«
»Dann bitte um
eine Tasse Mehl oder eine Flasche Milch! Spielt keine Rolle, um was, ist ja
sowieso nur ein Vorwand!«
Ich legte den
Hörer auf und dachte nach. Einerseits ging mich die ganze Geschichte nichts an.
Andererseits hing bei den Jankewicz’ öfter der Haussegen schief, und ich bekam
in dem hellhörigen Haus alles mit.
Eigentlich hatte
ich gar nichts gegen die Einquartierung. Schließlich herrschte in Dortmund
Wohnungsnot, und die vierköpfige Familie brauchte einen angemessen großen Raum.
Als alleinstehende Pastorin konnte ich ohnehin nicht das ganze Pfarrhaus
nutzen. Außerdem kam ich mir nicht mehr so einsam vor, seit die Jankewicz’ bei
mir eingezogen waren.
Rechts vom
Pfarrhaus stand eine Schule, von der abends allenfalls die Turnhalle genutzt
wurde. Linker Hand wohnten Eisenbahner in ihren Siedlungshäusern. Von ihnen
bekam
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