Kokoschkins Reise
langsam ins Hotel zurück. Im Foyer mußte er sich setzen. Es wurdeihm schwarz vor Augen. Ein Kellner, der erkannt hatte, daß es ihm schlecht erging, fragte, ob er Mineralwasser bringen solle. «Ja!»
Abends im Hotel-Restaurant Wintergarten sagte Kokoschkin zu Hlaváček: «Am Nachmittag dachte ich, ich stehe den Aufenthalt hier nicht durch. Für morgen bitte ich Sie um Ihre Hilfe.»
«Deshalb bin ich mitgefahren. Waren Sie in der Isaakskathedrale?»
«Eben nicht.»
«Wollen Sie das Haus besichtigen, in dem Ihre Eltern mit Ihnen gewohnt haben?»
«Auch.»
Am nächsten Vormittag mit Hlaváček auf dem Weg zum Mariinskaja-Hospital. Sie fuhren in einem Wagen des Hotels, den Kokoschkin noch am Abend geordert hatte. Er sagte zu dem Fahrer: «Irgendwo in der Nähe des Hospitals parken.»
Der Wagen hielt an, Kokoschkin stieg nicht aus. «Lieber Doktor Hlaváček. Ich bin heute zum ersten Mal an dieser Stelle. Ich sage Ihnen, warum ich hier bin. Mein Vater war als konstitutioneller Demokrat Minister der Provisorischen Regierung, und er war gewähltes Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung. Ein anderer Minister, ebenfalls konstitutioneller Demokrat, Andrej Schingarjow, und mein Vater … Ich möchte Ihnen sagen, was Neunzehnhundertachtzehn hier geschehen ist,aber ich bringe es nicht heraus. Ich muß Ihnen vorlesen, was jemand berichtet hat: ‹Schingarjow und Kokoschkin hatten an der Eröffnung der Verfassunggebenden Versammlung nicht teilgenommen, weil sie in der Festung Peter und Paul inhaftiert waren.› Sie wissen, daß die Bolschewisten nach ihrem Oktoberputsch alles daransetzten, einen Einparteienstaat zu errichten. Sie verboten zuerst die Partei der konstitutionellen Demokraten und erklärten ihre Führer zu Volksfeinden. Am achtundzwanzigsten November Neunzehnhundertsiebzehn verhafteten bolschewistische Greifertrupps alle prominenten Parteimitglieder, so auch Abgeordnete der Verfassunggebenden Versammlung, darunter meinen Vater und Schingarjow. Ich lese weiter: ‹In den frühen Morgenstunden des neunzehnten Januar wurden Schingarjow und Kokoschkin in das Mariinskaja-Hospital gebracht. Dort kamen sie in einen abgesonderten Raum, der von Soldaten bewacht war. In der Nacht zum zwanzigsten Januar kam eine Bande von bolschewistischen Soldaten und Matrosen unter dem Vorwand in die Sonderabteilung, sie seien die Wachablösung. Die Bolschewisten erstachen Schingarjow und Kokoschkin auf dem Krankenbett mit Bajonetten.›»
Hlaváček konnte nicht sprechen. Er sah Kokoschkin an. Schließlich sagte er: «Lassen Sie uns von hier wegfahren.»
Kokoschkin sagte: «Ich weiß nicht, ob im Hospital heute noch jemand von diesen Morden weiß. Ich gehe nicht hinein.»
«Der Bericht, den Sie vorgelesen haben …»
«Aus den Memoiren von Kerenski. Übrigens schrieb Gorki in ‹Nowaja Schisn› vom vierundzwanzigsten Januar Neunzehnhundertachtzehn, wildgewordene Bestien hätten Schingarjow und meinen Vater hinterlistig ermordet.»
«Ich habe das alles nicht gewußt», sagte Hlaváček.
«Wie auch. Der Name Kokoschkin ist nicht so selten. Und die Kommunisten waren nicht daran interessiert, dieses Verbrechen publik zu machen.»
«An diesem Hospital müßte es eine Gedenktafel geben, die an Ihren Vater und an Schingarjow erinnert.»
«Wie viele Gedenktafeln an wie vielen Häusern müßte es da in Rußland geben.»
«Und in Prag.»
«Neunzehnhundertachtzehn, im Alter von elf Jahren, hat Schostakowitsch ein Klavierstück komponiert. Es ist sein erstes Werk», sagte Kokoschkin.
«Das Stück ist erhalten?» fragte Jakub Hlaváček.
«Die einen sagen ja, die anderen nein. In Werkverzeichnissen steht es als Trauermarsch für die Opfer der Revolution. In sowjetischen Veröffentlichungen gilt das Stück als Beweis für die bolschewistischen Sympathien des jungen Komponisten und seiner Familie.»
«Von wem stammt der Titel?»
«Ich weiß es nicht. Schostakowitschs Tante Nadeshda Kokoulina, eine Schwester seiner Mutter, hat in einem Brief vom April Neunzehnhundertachtzehn geschrieben, daß der junge Schostakowitsch sein Klavierstück Trauermarschzum Gedenken an Schingarjow und Kokoschkin genannt hat.»
«Da sieht es mit den Sympathien für die Bolschewisten nicht mehr so gut aus.»
«Schingarjow und mein Vater wurden am siebenten Januar Neunzehnhundertachtzehn ermordet. Noch im selben Monat gab es im Stojunina-Gymnasium, das Schostakowitsch besuchte, einen Gedenkgottesdienst mit Trauerreden auf Schingarjow und
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