Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kokoschkins Reise

Kokoschkins Reise

Titel: Kokoschkins Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Joachim Schädlich
Vom Netzwerk:
sich ‚innere Angelegenheiten‘, wenn Verbrecher am helllichten Tag im Nachbarhaus rauben und morden.›
    Einmal sprach Bunin über Gorki. Seit Neunzehnhundert sei er mit ihm befreundet gewesen. Jetzt sei es mit der Freundschaft vorbei. Gorki sei ein Anhänger der Bolschewisten geworden. Mehr noch, ein Wortführer. ‹Wie verkommen, wie begeistert ist Gorki!›
    Über die Phrasen der Bolschewisten regte er sich oft auf: Die Revolution sei eine Elementargewalt! Erdbeben, Pest und Cholera seien auch Elementargewalten. Doch niemand preise sie. Man bekämpfe sie. Die Revolution aber werde fortwährend ‹vertieft›.
    ‹Ich lese gerade Lenôtre›, sagte er. ‹Saint-Just, Robespierre, Couthon   … Lenin, Trotzki, Dserschinski   … Wer ist niederträchtiger, blutrünstiger, widerlicher? Natürlich die in Moskau. Aber die in Paris waren auch nicht schlecht.›
    Wir lebten gerne bei den Steins. Mama besorgte Steins Haushalt, ich ging zur Schule.
    Dann die Katastrophe. Wir waren noch keine drei Monate in Odessa, Bunin nur wenige Wochen, da zogen – nach dem Abzug der Franzosen – bolschewistische Truppen ein.
    Mama ging kaum noch aus dem Haus. Frau Stein mußte die meisten Einkäufe allein besorgen. Es gab bald immer weniger zu kaufen. Die Preise stiegen schnell an.
    Bunin haben wir in dieser Zeit nicht gesehen. Er und seine Frau versteckten sich in ihrer Wohnung.
    Ich ging unbekümmert in die Stadt, obwohl Mama ständig Angst um mich hatte. Abends wurden keine Laternen mehr angezündet. Aber man sah leuchtende rote Sterne, zum Beispiel an den sogenannten Clubs, am Lenin-Club, am Swerdlow-Club, am Trotzki-Club. Überall hingen primitive Plakate gegen die Weißen.
    Bunin hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er die bolschewistische Machtergreifung verabscheute. Die Bolschewisten hätten ihn in Odessa aus der Wohnung holen und erschießen können. Aber es passierte ihm nichts. Später hieß es, der Maler Pjotr Alexandrowitsch Nilus habe ihn gerettet. Nilus war ein alter Freund Bunins. Er wohnte im selben Haus. Und er wurde als Maler von den Bolschewisten geschätzt. Nilus soll an den Volkskommissar für Bildungswesen, Lunatscharski, in Moskau telegraphiert haben, Lunatscharski möge den berühmten Schriftsteller Bunin schützen. Ausgerechnet Lunatscharski, den Bunin als Scheusal betrachtete.
    Es wird gesagt, Nilus habe aus Moskau einen Schutzbrief für Bunin bekommen, der das Odessaer Revolutionskomitee der Bolschewisten daran hinderte, Bunin zu erschießen.
     
    Im Sommer zogen die bolschewistischen Truppen ab. Bunin sagte zu Mama: ‹Die kommen zurück. Für immer. Aber vorher gehe ich mit meiner Frau fort. Sie sollten auch gehen.›
     
    Dr.   Stein glaubte ebenfalls, daß die Bolschewisten zurückkehren würden. Er sagte zu Mama, seine Frau und er hätten beschlossen, die Praxis aus der Stadt in das Haus zu verlegen; er müsse Mama bitten, mein Zimmer zu räumen, weil er es für die Praxis brauche. Wir sollten fortan beide in Mamas Zimmer wohnen. Ich weiß nicht, ob er Mama zu verstehen geben wollte, daß es besser für uns wäre, Odessa zu verlassen.
    Bunin riet Mama im Dezember noch einmal, fortzugehen.
    ‹Aber wohin!› fragte Mama.
    ‹In die Türkei.›
    ‹Und wie?›
    ‹Mit einem Schiff.›
    ‹Was sollen wir in der Türkei.›
    ‹Nach Europa fahren.›
    Mama wollte nicht fort. Schon gar nicht im Winter.»
    «Das begreife ich nicht», sagte Hlaváček. «Sie ist doch auch aus Petersburg weggegangen.»
    «Ebendeshalb. Der Schock dieser Flucht. Sie fühlte sich bei Dr.   Stein geborgen. Er bot uns Kost und Logis, sie führte Steins Haushalt. Und sie wollte mich nicht schon wieder aus der Schule nehmen.
    Ende Dezember Neunzehnhundertneunzehn mußte ich in Mamas Zimmer ziehen. Frau Stein gab uns einen Paravent, der Mamas Zimmer teilte. Dr.   Stein verlegte seine Praxis in die Wohnung. Das Speisezimmer wurde zum Behandlungsraum. Mein Zimmer wurde das Wartezimmer. Die eine der beiden Toiletten war die Patiententoilette.Auf die Haustür spannte Dr.   Stein eine Rotkreuzfahne.
    Ende Januar Neunzehnhundertneunzehn besuchten die Bunins Dr.   Stein. Wir wurden in den Salon gerufen. Die Bunins verabschiedeten sich von Dr.   Stein und dessen Frau, von Mama und mir. Bunin sagte zu Mama: ‹Sie gehören nach Europa.›
    Am sechsten Februar Neunzehnhundertzwanzig begleiteten die Steins und wir Bunin und dessen Frau Vera zum Hafen. Sie bestiegen das Schiff ‹Dmitry› nach Konstantinopel. Es war das letzte

Weitere Kostenlose Bücher