Kollaps
Moden zeigt ganz deutlich, dass die Grönländer sich stark an ihrem Heimatkontinent orientierten. Sie sagen unmissverständlich: »Wir sind Europäer, wir sind Christen, und Gott möge verhüten, dass irgendjemand uns mit den Inuit verwechselt.« Genau wie Australien, das ich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts besuche und das damals britischer war als Großbritannien selbst, so blieb auch Europas abgelegenster Außenposten in Grönland emotional eng an den Kontinent gebunden. Das wäre harmlos gewesen, hätte die Bindung sich nur in zweiseitigen Kämmen und der Haltung der Arme über einer Leiche manifestiert. Gefährlicher wird die Haltung »wir sind Europäer«, wenn man im grönländischen Klima halsstarrig an Kühen festhält, Arbeitskräfte von der sommerlichen Heuernte abzieht und zum Jagen in die Nordrseta schickt, die Übernahme nützlicher Aspekte der Inuit-Technologie ablehnt und dann verhungert. Aus der Sicht unserer modernen, säkularen Gesellschaft können wir uns kaum vorstellen, in welchem Dilemma die Grönländer steckten. Für sie, denen das gesellschaftliche Überleben ebenso wichtig war wie die biologische Selbsterhaltung, stellte sich die Frage überhaupt nicht, ob sie weniger in Kirchen investieren und die Inuit nachahmen oder mit ihnen Ehen schließen sollten, denn das hätte ihnen eine Ewigkeit in der Hölle eingebracht, nur damit sie auf Erden einen weiteren Winter überlebten. Das Festhalten der Grönländer an ihrem Selbstbild als europäische Christen dürfte ein wichtiger Faktor für ihre zuvor erwähnte konservative Haltung gewesen sein: Sie waren europäischer als die Europäer selbst, und diese kulturelle Barriere verhinderte die drastischen Veränderungen in der Lebensweise, mit denen sie hätten überleben können.
KAPITEL 8
Das Ende von Normannisch-Grönland
Der Anfang vom Ende ■ Waldzerstörung ■ Schäden an Boden und Wiesen ■ Die Vorgänger der Inuit ■ Lebensunterhalt bei den Inuit ■ Das Verhältnis zwischen Inuit und Wikingern ■ Das Ende ■ Die eigentlichen Ursachen des Unterganges
Im vorigen Kapitel haben wir erfahren, wie es den Wikingern in Grönland anfangs gut ging, weil im Umfeld ihrer Ankunft eine ganze Reihe glücklicher Umstände herrschte. Sie hatten das Glück, dass sie eine jungfräuliche Landschaft entdeckten, die noch nie abgeholzt oder abgegrast worden war und sich als Weideland eignete. Sie kamen zu einer Zeit mit relativ mildem Klima, die Heuproduktion reichte in den meisten Jahren aus, die Seewege nach Europa waren eisfrei, in Europa bestand Bedarf an dem exportierten Walrosselfenbein, und in der Nähe der normannischen Siedlungen und Jagdreviere gab es nirgendwo amerikanische Ureinwohner.
Alle diese anfänglichen Vorteile gingen im Lauf der Zeit verloren, und daran waren die Wikinger selbst nicht unschuldig. Auf die Klimaveränderungen, die wechselnde Nachfrage nach Elfenbein in Europa und die Ankunft der Inuit hatten sie zwar keinen Einfluss, aber es lag an ihnen, wie sie damit umgingen. Und für das, was sie mit der Landschaft machten, waren sie ganz allein verantwortlich. In dem nun folgenden Kapitel werden wir erfahren, wie das Schwinden der genannten Vorteile und die Reaktionen der Wikinger darauf zum Ende der normannisch-grönländischen Kolonie führten.
Die Wikinger schädigten ihre Umwelt in Grönland mindestens auf dreierlei Weise: Sie zerstörten die natürliche Pflanzenwelt, setzten die Bodenerosion in Gang und stachen den Rasen aus. Unmittelbar nach ihrer Ankunft brannten sie Wälder ab, um Land für Weideflächen zu gewinnen, und dann fällten sie einen Teil der verbliebenen Bäume, um sie als Bau- oder Brennholz zu verwenden. Dass neue Bäume nachwuchsen, verhinderte das Vieh, das die Schösslinge abweidete oder zertrampelte, insbesondere im Winter, wenn die Pflanzen besonders empfindlich waren und ohnehin ihr Wachstum einstellten.
Welche Auswirkungen solche Verhaltensweisen auf die natürliche Vegetation hatten, können unsere alten Freunde, die Pollenforscher, am besten einschätzen: Sie untersuchten radiokarbondatierte Sedimentstücke vom Boden der Seen und Sümpfe. In diesen Ablagerungen findet man mindestens fünf Arten ökologischer Beweisstücke: erstens Blätter, Pollen und andere Pflanzenteile, an denen man erkennen kann, welche Pflanzen zu jener Zeit an der betreffenden Stelle wuchsen; zweitens Holzkohleteilchen, einen Hinweis auf Feuer in der Nähe; drittens magnetische Eigenschaften, ein Spiegelbild der
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