Kollaps
selbstverständlich ist, stehen lässt - und beide Verfahren wurden von den Wikingern wie von allen anderen Menschen vor Beginn der Neuzeit nicht praktiziert. Deshalb mussten die Gefäße, in denen man Milch sammelte, lagerte und zu Käse verarbeitete, häufig mit kochendem Wasser gespült werden; bei Milcheimern war dies sogar zweimal am Tag erforderlich.
Aus diesem Grund konnte man die Tiere bei den saeters (den Sommerhäusern im Gebirge) nur in Höhen bis zu 400 Metern melken; darüber, und zwar bis in eine Höhe von rund 750 Metern, wuchs zwar ebenfalls noch Weidegras, aber Brennholz stand nicht mehr zur Verfügung. Aus Island und Norwegen wissen wir, dass saeters aufgegeben werden mussten, nachdem die Brennholzvorräte in der Umgebung erschöpft waren, und das Gleiche geschah wahrscheinlich auch in Grönland. Wie das knappe Bauholz, so wurde auch das rare Brennholz durch andere Materialien ersetzt - unter anderem verbrannte man Tierknochen, Dung und Rasen. Aber diese Lösungen hatten ebenfalls Nachteile: Mit Knochen und Dung hätte man sonst die Wiesen düngen und die Heuproduktion steigern können, und Rasen zu verbrennen, war gleichbedeutend mit der Zerstörung von Weideland.
Zu den weiteren schwer wiegenden Folgen der Waldzerstörung gehörte neben der Bau- und Brennholzknappheit auch ein Mangel an Eisen. Die Skandinavier gewannen ihr Eisen größtenteils aus Raseneisenerz: Das Metall wurde aus Sumpfsedimenten mit geringem Eisengehalt abgetrennt. Raseneisenerz steht in Grönland genau wie in Island und Skandinavien an manchen Stellen zur Verfügung: Christian Keller und ich sahen bei Gardar in der Östlichen Siedlung einen Sumpf in der Farbe von Eisen, und zwei weitere derartige Sümpfe fand Thomas McGovern in der Westlichen Siedlung. Das Problem bestand nicht darin, Raseneisenerz in Grönland zu finden, sondern in seiner Verarbeitung: Man brauchte riesige Holzmengen zur Herstellung der Holzkohle, mit der die erforderlichen hohen Temperaturen des Feuers zu erreichen waren. Selbst als die Grönländer diesen Schritt schließlich wegließen und Eisenwaren aus Norwegen importierten, brauchten sie immer noch Holzkohle, um das Metall zu Werkzeugen zu verarbeiten und um diese Werkzeuge zu schärfen, zu reparieren und umzubauen, was häufig erforderlich war.
Wir wissen, dass die Grönländer Eisenwerkzeuge besaßen und mit Eisen arbeiteten. Auf vielen großen Wikingerhöfen fand man Schmieden und Eisenschlacke, aber damit ist noch nicht geklärt, ob die Schmieden nur zur Verarbeitung importierten Eisens oder auch zu seiner Gewinnung aus Raseneisenerz verwendet wurden. An mehreren archäologischen Stätten fand man die üblichen Eisengegenstände, die man in einer mittelalterlichen skandinavischen Gesellschaft erwartet, beispielsweise Axtschneiden, Sensen, Messer, Schafscheren, Schiffsnieten, Zimmermannshobel, Ahlen zum Stechen von Löchern und Handbohrer.
Die gleichen Fundstätten lassen aber auch eindeutig erkennen, dass in Grönland, selbst nach den Maßstäben des mittelalterlichen Skandinavien, wo Eisen keineswegs reichlich war, eine entsetzliche Eisenknappheit herrschte. So findet man beispielsweise an Wikinger-Fundstätten in Großbritannien und auf den Shetlandinseln, ja selbst in Island und an der Ausgrabungsstätte L’Anse aux Meadows in Vinland erheblich mehr Nägel und andere Eisengegenstände als an entsprechenden Stellen in Grönland. In L’Anse aux Meadows sind weggeworfene Nägel die häufigsten Eisengegenstände, und selbst in Island, wo Holz und Eisen ebenfalls knapp waren, findet man sie in großer Zahl. In Grönland dagegen herrscht extremer Eisenmangel. Dort hat man in den untersten archäologischen Schichten einige Nägel entdeckt, in jüngeren Ablagerungen fehlen sie jedoch fast völlig, weil Eisen einfach so kostbar war, dass es nicht weggeworfen wurde. In Grönland wurde kein einziges Schwert, kein Helm, und nicht einmal ein Bruchstück eines solchen Gegenstandes gefunden, und auch von Kettenhemden kennt man nur wenige Stücke, die wahrscheinlich alle von einer einzigen Rüstung stammen. Eisenwerkzeuge wurden immer wieder geschärft und wieder verwendet, bis sie zu einem Stummel geschrumpft waren. Bei Ausgrabungen im Tal von Qorlortoq fiel mir beispielsweise ein Mitleid erregendes Messer auf: Die Schneide war abgenutzt und fast nicht mehr vorhanden, aber sie steckte in einem Handgriff, dessen Länge in keinem Verhältnis zu dem Stummel stand; offensichtlich war auch dieses Werkzeug noch
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