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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Waffen zur Verteidigung gegen die Inuit herzustellen, oder wenn sie Waren eingeführt hätten, die sie in schwierigen Zeiten bei den Inuit hätten eintauschen können. Aber auch diese Fragen stellen wir aus der vorteilhaften Situation des Rückblicks heraus und ohne Rücksicht auf das kulturelle Erbe, das die Grönländer zu ihren Entscheidungen veranlasste.
    Neben dieser spezifisch christlichen Identität behielten die Grönländer auch in vielen anderen Aspekten ihr europäisches Selbstbild bei, was sich unter anderem an dem Import europäischer Bronzekerzenständer, Glasknöpfe und Goldringe zeigt. In den Jahrhunderten, in denen ihre Kolonie existierte, folgten die Grönländer in allen Einzelheiten den wechselnden europäischen Sitten und übernahmen sie. Ein gut dokumentiertes Beispiel sind die Bestattungsgebräuche, die man durch Ausgrabungen auf Friedhöfen in Skandinavien und Grönland aufklären konnte. Säuglinge und tot geborene Kinder wurden im mittelalterlichen Norwegen am Ostgiebel einer Kirche bestattet; in Grönland machte man es genauso. Verstorbene bestattete man in Norwegen in Särgen, wobei den Frauen der südliche Teil des Friedhofes und den Männern der nördliche Teil vorbehalten war; später verzichtete man in Norwegen auf die Särge, wickelte die Leichen nur in ein Stück Stoff oder ein Totenhemd, und bestattete Männer und Frauen nebeneinander. Die gleichen Veränderungen wurden auch in Grönland nachvollzogen. Auf dem europäischen Kontinent legte man die Leichen während des gesamten Mittelalters auf den Rücken, wobei der Kopf nach Westen und die Füße nach Osten wiesen (sodass der Tote nach Osten »blickte«), aber die Haltung der Arme änderte sich: Bis 1250 legte man sie ausgestreckt neben den Körper, um 1250 bog man sie leicht über das Becken, später wurden sie noch stärker gebogen, sodass sie auf dem Bauch lagen, und im Spätmittelalter schließlich wurden sie über der Brust gefaltet. Auch diesen Wandel der Armhaltung kann man auf grönländischen Friedhöfen beobachten.
    Auf ganz ähnliche Weise folgte man auch beim Kirchenbau in Grönland den europäischen Vorbildern und ihren Wandlungen. Jeder Tourist, der europäische Kathedralen mit ihrem langen Hauptschiff, dem nach Westen gewandten Haupteingang, dem Altarraum, nördlichem und südlichem Querhaus kennt, findet alle diese Merkmale auch in den steinernen Ruinen der Kathedrale von Gardar wieder. Die Kirche von Hvalsey ähnelt dem Bauwerk im norwegischen Eidfjord so stark, dass die Grönländer sich entweder denselben Architekten auf die Insel geholt haben müssen oder die Baupläne kopierten. Zwischen 1200 und 1225 gaben norwegische Baumeister das bis dahin benutzte Längenmaß (den so genannten internationalen römischen Fuß) auf und übernahmen den kürzeren griechischen Fuß: in Grönland tat man es ihnen sofort nach.
    Die Nachahmung europäischer Vorbilder erstreckte sich bis auf häusliche Gegenstände wie Kämme und Kleidung.
    Bis ungefähr 1200 waren norwegische Kämme einseitig: Die Zinken standen nur auf einer Seite des Schaftes. Danach kamen solche Kämme aus der Mode, und an ihre Stelle traten doppelseitige Modelle, bei denen zwei Zinkenreihen in entgegengesetzte Richtungen zeigten; auch diesen Wechsel in der Machart der Kämme vollzogen die Grönländer nach. (Das erinnert an eine Bemerkung in dem Buch Walden von Henri Thoreau über Menschen, die sklavisch den Modeschöpfern in einem weit entfernten Land folgen: »Der Oberaffe in Paris setzt eine Schirmmütze auf, und alle Affen in Amerika machen es ihm nach.«) Auf dem Friedhof von Herjolfsnes hat man Leichen ausgegraben, die in den letzten Jahrzehnten der grönländischen Kolonie im Permafrost bestattet wurden; sie sind von ausgezeichnet erhaltenen Tüchern umhüllt, an denen man deutlich erkennen kann, dass die Kleidungsmode in Grönland genau der in Europa folgte, obwohl sie sich für das kalte Klima weit weniger eignete als der einteilige Parka der Inuit mit seinen eng anliegenden Ärmeln und der Kapuze. Die Kleidung der letzten grönländischen Wikinger bestand bei den Frauen aus einem langen, tief ausgeschnittenen Umhang mit enger Taille und bei den Männern aus dem houpelande , einem auffälligen Mantel, der als lockerer Umhang von einem Gürtel in der Körpermitte zusammengehalten wurde, während der Wind durch die weiten Ärmeln pfeifen konnte; außerdem trugen die Männer eine vorn geknöpfte Jacke und einen hohen Hut.
    Diese Nachahmung europäischer

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