Kollaps
Gedankens nicht erwehren, dass die Grönländer Boote und Arbeitszeit sinnvoller hätten nutzen können. Aus ihrer Sicht jedoch verschaffte die Jagd den einzelnen Jägern offenbar großes Ansehen, und gleichzeitig hielt sie für die ganze Gesellschaft den psychologisch unentbehrlichen Kontakt nach Europa aufrecht.
Der grönländische Handel mit Europa lief vorwiegend über die norwegischen Häfen Bergen und Trondheim. Anfangs wurde die Fracht in seetüchtigen Schiffen transportiert, die Isländern und den Grönländern selbst gehörten, aber als diese Schiffe älter wurden, konnte man sie wegen des Holzmangels auf den Inseln nicht ersetzen, sodass man den Handel norwegischen Schiffen überlassen musste. Mitte des 13. Jahrhunderts kam häufig mehrere Jahre lang kein einziges Schiff nach Grönland. Im Jahr 1257 war der norwegische König Haakon Haakonsson bestrebt, seine Macht über alle Gesellschaften auf den Nordatlantikinseln zu festigen, und im Rahmen dieser Bemühungen schickte er drei Kommissare nach Grönland, die die bis dahin unabhängigen Inselbewohner veranlassen sollten, seine Herrschaft anzuerkennen und Tribut zu zahlen. Das Übereinkommen zwischen beiden Parteien ist nicht in allen Einzelheiten erhalten, manche Schriftstücke lassen aber darauf schließen, dass Grönland im Jahr 1261 die norwegische Herrschaft anerkannte, und im Gegenzug versprach der König, jedes Jahr zwei Schiffe auf die Reise zu schicken; ganz ähnlich sah ein gleichzeitig geschlossener Vertrag mit Island aus, den wir genau kennen und der sechs Schiffe pro Jahr vorsah. Von nun an wurde der Handel mit Grönland zu einem Monopol der norwegischen Krone. Aber Grönland blieb nur locker an Norwegen gebunden, und der Herrschaftsanspruch war wegen der großen Entfernung nur schwer durchzusetzen. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass im 14. Jahrhundert mehrmals königliche Agenten in Grönland ansässig waren.
Mindestens ebenso wichtig wie die europäischen Warenexporte nach Grönland waren die psychologischen Exporte einer christlichen und europäischen Identität. Diese Identität war wahrscheinlich der Grund, warum die Grönländer sich - jedenfalls aus heutiger Sicht mit dem Vorteil des Rückblicks - schlecht angepasst verhielten, was sie letztlich ihr Leben kostete, sie zuvor jedoch viele Jahrhunderte lang in die Lage versetzte, unter schwierigeren Bedingungen als alle anderen mittelalterlichen Europäer eine funktionierende Gesellschaft aufrechtzuerhalten.
Grönland bekehrte sich um das Jahr 1000 zum Christentum, ungefähr zur gleichen Zeit wie Island und die anderen Wikingerkolonien im Atlantikraum sowie Norwegen selbst. Als Kirchen gab es auf der Insel mehr als ein Jahrhundert lang nur kleine Bauwerke, die man aus Grassoden auf dem Land von Bauern - vorwiegend der größten Höfe - errichtete. Ganz ähnlich wie in Island handelte es sich um so genannte Eigentümerkirchen, die von dem Bauern und Landbesitzer errichtet wurden; dieser blieb der Eigentümer und hatte Anspruch auf einen Teil der Abgaben, die von den örtlichen Kirchenmitgliedern entrichtet wurden.
Zunächst gab es in Grönland noch keinen ortsansässigen Bischof, aber ein solcher war notwendig, damit Firmungen vorgenommen werden konnten und damit eine Kirche als geweiht galt. Deshalb schickten die Grönländer um das Jahr 1118 den gleichen Einar Sokkason, der uns schon als Sagenheld begegnet ist und hinterrücks durch einen Axthieb getötet wurde, nach Norwegen: Er sollte den König veranlassen, der Kolonie einen Bischof zuzuteilen. Als Anreiz brachte Einar dem König einen großen Vorrat an Elfenbein, Wahlrosszähnen und - das Beste von allem - einen lebenden Eisbären mit. Das Geschenk hatte die gewünschte Wirkung. Der König überzeugte nun seinerseits den Geistlichen Arnald, den wir in Einar Sokkasons Saga kennen gelernt haben, als erster ständiger Bischof nach Grönland zu gehen; ihm folgten im Lauf der weiteren Jahrhunderte mindestens neun andere. Alle waren in Europa geboren und ausgebildet, und nach Grönland kamen sie erst durch ihre Ernennung zum Bischof. Wie nicht anders zu erwarten, diente Europa ihnen als Vorbild: Sie aßen lieber Rind- als Robbenfleisch und verwendeten die Ressourcen der grönländischen Gesellschaft für die Jagd in der Nordrseta, um Wein und Kleidung für sich selbst sowie farbige Glasfenster für ihre Kirchen kaufen zu können.
Auf Arnalds Ernennung folgte eine große Welle von Kirchenneubauten nach europäischen Vorbildern. Diese
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