Kollaps
genauer betrachten. In diesem Fall kann es sich bei den skraelings nur um Inuit gehandelt haben, denn die Dorset-Menschen waren zu jener Zeit aus Grönland bereits verschwunden. Die letzte Stelle schließlich ist ein einziger Satz in den Annalen Islands aus dem Jahr 1379: »Die skraelings griffen die Grönländer an, töteten 18 Männer und nahmen zwei Jungen sowie eine Leibeigene gefangen, um sie zu Sklaven zu machen.« Wenn die Annalen nicht fälschlich einen Angriff, den das Volk der Saami in Norwegen ausführte, nach Grönland verlegt haben, muss dieser Vorfall sich vermutlich in der Nähe der Östlichen Siedlung ereignet haben, denn die Westliche Siedlung existierte 1379 nicht mehr, und zu einer Gruppe normannischer Jäger in der Nordrseta hätte vermutlich keine Frau gehört. Wie sollen wir diese knappe Geschichte interpretieren? Für uns heute, die wir ein Jahrhundert der Weltkriege mit zigmillionen Opfern hinter uns haben, hört sich die Tötung von 18 Wikingern nicht nach einer großen Angelegenheit an. Aber man muss bedenken, dass die Bevölkerung der Östlichen Siedlung insgesamt vermutlich aus nicht mehr als 4000 Menschen bestand, und 18 Männer entsprachen demnach einem Anteil von etwa zwei Prozent der erwachsenen männlichen Bewohner. Würde heute ein Feind die Vereinigten Staaten mit ihrer Bevölkerung von 280 Millionen Menschen angreifen und den gleichen Anteil an Männern töten, entspräche dies 1 260 000 toten Amerikanern. Mit anderen Worten: Der einzige belegte Überfall im Jahr 1379 bedeutete für die Östliche Siedlung eine Katastrophe, ganz gleich, wie viele weitere Männer bei den Angriffen der Jahre 1380, 1381 und so weiter ums Leben kamen.
Die drei erwähnten kurzen Textstellen sind die einzigen schriftlichen Informationsquellen über das Verhältnis zwischen Wikingern und Inuit. Die archäologischen Informationen stammen aus Produkten der Wikinger oder Kopien solcher Produkte, die man an Ausgrabungsstätten der Inuit gefunden hat, und umgekehrt. Insgesamt kennt man von Inuit-Fundstätten 170 Gegenstände normannischen Ursprungs; darunter sind einige vollständige Werkzeuge (ein Messer, eine Schere und ein Feueranzünder), vorwiegend handelt es sich aber um einzelne Metallstücke (aus Eisen, Kupfer, Bronze oder Zinn), die für die Inuit zur Herstellung eigener Werkzeuge sehr wertvoll waren. Solche normannischen Gegenstände findet man nicht nur an InuitFundstellen in Gebieten, in denen die Wikinger lebten (Östliche und Westliche Siedlung) oder häufig zu Besuch waren (Nordrseta), sondern auch in Regionen, die nie von den Wikingern aufgesucht wurden, so in Ostgrönland und auf der Ellesmere-Insel. Die Gegenstände der Wikinger müssen also für die Inuit von so großem Interesse gewesen sein, dass sie durch den Handel unter Inuitgruppen, die viele hundert Kilometer voneinander entfernt waren, weitergegeben wurden. In den meisten Fällen können wir heute nicht mehr feststellen, ob die Inuit die Gegenstände von den Wikingern selbst durch Handel, Mord oder Raub erhielten, oder indem sie normannische Siedlungen durchsuchten, nachdem die Wikinger diese aufgegeben hatten. Zehn Metallstücke stammen jedoch eindeutig von Glocken der Kirchen in der Östlichen Siedlung, und die hätten die Wikinger sicher nicht verkauft. Vermutlich holten sich die Inuit die Glocken, nachdem die Wikinger verschwunden waren, beispielsweise als sie selbst in Häusern lebten, die sie in den normannischen Ruinen errichtet hatten.
Handfestere Belege für persönliche Kontakte zwischen den beiden Völkern bieten neun von Inuit geschnitzte menschliche Figuren; dass es sich bei ihnen unverkennbar um Wikinger handelt, kann man an der Darstellung der charakteristischen Haartracht, der Kleidung und dem schmückenden Kruzifix ablesen. Die Inuit lernten von den Wikingern auch einige nützliche technische Verfahren. Werkzeuge in der Form eines europäischen Messers oder einer Säge konnten sie möglicherweise anhand geplünderter Gegenstände nachahmen, ohne dass es freundliche Kontakte zu lebenden Normannen geben musste, aber Fassdauben und Pfeilspitzen mit Schraubgewinde lassen darauf schließen, dass die Inuit tatsächlich zusahen, wie Wikinger ihre Fässer und Schrauben herstellten oder benutzten.
Umgekehrt hat man so gut wie nie Gegenstände der Inuit an Wikinger-Ausgrabungsstätten gefunden. Ein Hirschgeweih, zwei Wurfpfeile für Vögel, ein Seilgriff aus Elfenbein und ein Stück Meteoriteneisen - diese fünf Gegenstände
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