Kollaps
Herstellung von Kontakten nicht ohne weiteres auf der Hand. Was mag der erste Wikinger, der in der Nordrseta eine Gruppe von Inuit sah, getan haben? Rief er »Hallo!«, ging er zu ihnen, lächelte er, bediente er sich der Gebärdensprache, zeigte er auf einen Wahlrossstoßzahn und hielt er ein Stück Eisen in die Höhe? Im Rahmen meiner biologischen Feldforschungen in Neuguinea habe ich solche »Erstkontaktsituationen« erlebt, und ich fand sie gefährlich und absolut entsetzlich. Die »Eingeborenen« betrachten die Europäer anfangs als Eindringlinge und gehen zu Recht davon aus, dass diese für ihre Gesundheit, ihr Leben und ihr Eigentum eine Gefahr darstellen. Keine Seite weiß, was die andere tun wird, beide sind angespannt und verängstigt, beide sind unsicher, ob sie flüchten oder schießen sollen, und beide suchen beim Gegenüber nach der geringsten Bewegung, die darauf hindeuten könnte, dass der andere in Panik gerät und als Erster schießt. Um eine solche Erstkontaktsituation zu einer freundlichen Beziehung zu machen oder auch nur zu überleben, braucht man äußerste Vorsicht und Geduld. Spätere europäische Kolonialherren eigneten sich gewisse Erfahrungen mit derartigen Situationen an, aber die Wikinger schossen offensichtlich als Erste. Kurz gesagt, mussten sich die Dänen im Grönland des 18. Jahrhunderts und die Europäer, die an anderen Stellen mit einheimischen Völkern zusammentrafen, mit den gleichen Problemen auseinander setzen wie die Wikinger: mit ihren eigenen Vorurteilen gegen »primitive Heiden«, mit der Frage, ob man sie töten und ausrauben oder ob man besser Handel mit ihnen treiben solle, sie heiratet und ihr Land in Besitz nimmt, und mit der Frage, wie man sie dazu bringt, nicht zu flüchten oder zu schießen. Später gingen die Europäer solche Probleme an, indem sie das ganze Spektrum der Möglichkeiten kultivierten und sich jeweils für diejenige entschieden, die unter den gegebenen Umständen am besten geeignet war; dies hing davon ab, ob die Europäer in der Über- oder Unterzahl waren, ob sie eine ausreichende Zahl von Europäerinnen als Ehefrauen bei sich hatten, ob die Einheimischen über Handelswaren verfügten, die in Europa geschätzt wurden, und ob das Land der Einheimischen für die Europäer als Siedlungsgebiet attraktiv war. Die mittelalterlichen Wikinger verfügten noch nicht über derart vielseitige Möglichkeiten. Da sie sich weigerten oder nicht in der Lage waren, von den Inuit zu lernen, und da sie gleichzeitig auch keinen militärischen Vorteil auf ihrer Seite hatten, verschwanden am Ende nicht die Inuit, sondern die Wikinger.
Das Ende der Wikingerkolonie in Grönland wird häufig als »rätselhaft« bezeichnet. Das stimmt aber nur zum Teil: Es gilt zu unterscheiden zwischen den eigentlichen Gründen (das heißt den langfristigen Faktoren, die zum allmählichen Niedergang der Wikingergesellschaft in Grönland führten) und den unmittelbaren Anlässen (das heißt dem letzten Schlag für die geschwächte Gesellschaft, bei dem die letzten Menschen ums Leben kamen oder gezwungen waren, ihre Siedlungen aufzugeben). Nur die unmittelbaren Anlässe sind teilweise ein Rätsel; die tieferen Gründe dagegen liegen klar zu Tage. Es handelt sich um die fünf Faktoren, die wir bereits ausführlich erörtert haben: die Eingriffe der Wikinger in ihre Umwelt, Klimaveränderungen, Abnahme der freundlichen Kontakte zu Norwegen, Zunahme der feindseligen Kontakte mit den Inuit und die konservative Grundeinstellung der Wikinger.
Kurz gesagt, betrieben die Wikinger unabsichtlich Raubbau mit den ökologischen Ressourcen, auf die sie angewiesen waren: Sie fällten Bäume, stachen Rasen, ließen die Überweidung zu und verursachten Bodenerosion. Schon in der Anfangszeit der Wikingersiedlungen reichten die natürlichen Ressourcen Grönlands nur knapp aus, um eine bäuerliche europäische Gesellschaft in lebensfähiger Größe zu ernähren, und die Heuproduktion ist in Grönland von Jahr zu Jahr starken Schwankungen unterworfen. Deshalb wurde die Dezimierung der ökologischen Ressourcen in schlechten Jahren zu einer existenziellen Gefahr für die Gesellschaft. Zweitens wissen wir aus Klimaberechnungen an den grönländischen Eisbohrkernen, dass es bei Ankunft der Wikinger auf der Insel relativ mild war (das heißt so »mild« wie heute): im 14. Jahrhundert folgten dann mehrfach mehrere kalte Jahre aufeinander, und im 15. Jahrhundert begann die so genannte »kleine Eiszeit«, die bis ins
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