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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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von denen, welche der Gesetzeshüter [ein hochrangiger Beamter] angewiesen hatte, zur Westlichen Siedlung zu gehen und gegen die skraelings zu kämpfen, um sie aus der Westlichen Siedlung zu vertreiben. Bei ihrer Ankunft fanden sie keinen Menschen vor, weder Christen noch Heiden .«
    Am liebsten würde ich vor lauter Frustration Ivar Bardarsons Leiche schütteln, weil er so viele Fragen unbeantwortet gelassen hat. In welchem Jahr ging er dorthin, und in welchem Monat? Fand er noch gelagertes Heu oder Käse vor? Wie konnten tausend Menschen einfach verschwinden, sodass kein Einziger mehr übrig war? Gab es Spuren von Kämpfen, niedergebrannte Gebäude oder Leichen? Das alles erfahren wir von Bardarson nicht.
    Stattdessen müssen wir uns an die Befunde der Archäologen halten, die auf mehreren Höfen der Westlichen Siedlung die obersten Trümmerschichten ausgegraben haben. Diese enthalten die Überreste, die die verbliebenen normannischen Bewohner in der Siedlung während der letzten Monate zurückließen. In den Ruinen findet man Türen, Pfosten, Dachbalken, Möbel, Geschirr, Kruzifixe und andere große Gegenstände aus Holz. Das ist ungewöhnlich: Wenn ein Bauernhof in Nordskandinavien absichtlich aufgegeben wird, nehmen die Bewohner solche Gegenstände in der Regel mit und verwenden sie an ihrem neuen Wohnort wieder, einfach weil Holz so kostbar ist. Wie bereits erwähnt, enthielt das Wikingerlager von L’Anse aux Meadows in Neufundland, das nach einer geplanten Evakuierung aufgegeben wurde, kaum Wertgegenstände mit Ausnahme von 99 zerbrochenen Nägeln, einem vollständigen Nagel und einer Stricknadel. Die Westliche Siedlung dagegen wurde offensichtlich sehr eilig verlassen, oder die letzten Bewohner konnten ihre Möbel nicht mehr abtransportieren, weil sie dort starben.
    Die Tierknochen in diesen obersten Schichten erzählen eine grausige Geschichte. Unter ihnen sind die Fußknochen von Wildvögeln und Kaninchen, die so klein waren, dass sie normalerweise nicht gejagt wurden und nur als letzte Zuflucht bei einer Hungersnot dienten; weiterhin fand man Knochen eines neugeborenen Kalbes und eines Lamms, die im späten Frühjahr zur Welt gekommen waren, die Zehenknochen mehrerer Kühe, deren Zahl ungefähr der Zahl von Verschlagen im Kuhstall des Hofes entspricht - demnach wurden wohl alle Kühe geschlachtet und bis hin zu den Beinen aufgegessen -, und Teilskelette großer Jagdhunde, an deren Knochen man Messerspuren entdeckte. Hundeknochen fehlen ansonsten in Wikingerhäusern praktisch völlig, denn diese Menschen waren ebenso wenig bereit, ihre Hunde zu essen, wie wir. Als die letzten Bewohner die Hunde töteten, auf die sie im Herbst bei der Karibujagd angewiesen waren, und als sie außerdem die Jungtiere schlachteten, die sie zum Neuaufbau ihrer Herden benötigten, gestanden sie letztlich ein, dass sie vor lauter Hunger nicht mehr an die Zukunft denken konnten. In den tieferen Trümmerschichten der Häuser fand man zusammen mit menschlichen Exkrementen auch Aas fressende Fliegen, die zu wärmeliebenden Arten gehörten; die oberste Schicht dagegen enthält nur kältetolerante Fliegenarten, ein Indiz, dass den Bewohnern nicht nur die Nahrung, sondern auch das Brennmaterial ausgegangen war.
    Aus allen diesen archäologischen Einzelheiten können wir ablesen, dass die letzten Bewohner jener Höfe in der Westlichen Siedlung im Frühjahr verhungerten und erfroren. Entweder war es ein kaltes Jahr, und die Robben kamen nicht, oder im Fjord herrschte starker Eisgang; vielleicht erinnerte sich auch eine Gruppe von Inuit daran, dass ihre Verwandten von den Wikingern in einem Experiment erstochen worden waren, weil man wissen wollte, wie stark sie bluteten, und nun versperrten sie ihnen den Zugang zu den Robbenherden im äußeren Teil der Fjorde. Wahrscheinlich hatte ein kalter Sommer im Jahr zuvor dazu geführt, dass die Bauern nicht genügend Heu hatten, um ihr Vieh den ganzen Winter über zu füttern. Sie mussten ihre letzten Kühe schlachten und sogar die Füße essen, sie töteten und aßen ihre Hunde, und sie machten Jagd auf Vögel und Kaninchen. Wenn es so war, muss man sich allerdings fragen: Warum fanden die Archäologen in den zusammengebrochenen Häusern nicht auch die Skelette der letzten Wikinger? Nach meiner Vermutung erwähnte Ivar Bardarson nicht, dass er mit seiner Gruppe aus der Östlichen Siedlung in der Westlichen Siedlung aufräumte und seinen Landsleuten ein christliches Begräbnis zuteil werden ließ

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