Kollaps
- oder vielleicht ließ auch der Schreiber, der Bardarsons verlorenes Original abschrieb und kürzte, diesen Bericht unter den Tisch fallen.
Wie sah nun das Ende der Östlichen Siedlung aus? Im Jahr 1368 schickte der norwegische König zum letzten Mal ein königliches Handelsschiff nach Grönland; dieses Schiff sank im folgenden Jahr. Danach sprechen die Berichte nur noch von vier weiteren Seereisen nach Grönland (in den Jahren 1381, 1382, 1385 und 1406); in allen Fällen handelte es sich um private Schiffe, und die Kapitäne behaupteten, ihr eigentlicher Bestimmungsort sei Island gewesen - nach Grönland seien sie unabsichtlich gelangt, weil sie durch den Wind vom Kurs abgekommen seien. Wenn man bedenkt, dass der norwegische König für sich das ausschließliche Recht auf den Grönlandhandel als königliches Monopol beanspruchte und dass es privaten Schiffen nicht erlaubt war, Grönland anzulaufen, müssen wir solche »unabsichtlichen« Reisen als erstaunlichen Zufall betrachten. Die Behauptungen der Kapitäne, sie seien zu ihrem tiefen Bedauern in dichtem Nebel vom Weg abgekommen und am Ende fälschlich nach Grönland gelangt, waren höchstwahrscheinlich nur Ausreden, mit denen sie von ihren wirklichen Absichten ablenken wollten. Zweifellos wussten die Seeleute, dass nur sehr wenige Schiffe nach Grönland fuhren und dass die Inselbewohner großen Bedarf an Handelsgütern hatten, sodass man die norwegischen Importe dort mit hohem Gewinn verkaufen konnte. Thorstein Olaffson, der Kapitän des Schiffes von 1406, kann über seinen Navigationsfehler nicht allzu traurig gewesen sein: Er blieb fast vier Jahre in Grönland und kehrte erst 1410 nach Norwegen zurück.
Dabei brachte Kapitän Olaffson drei Neuigkeiten aus Grönland mit. Erstens hatte man einen Mann namens Kolgrim im Jahr 1407 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er angeblich mit Zauberei eine Frau namens Steinnunn verführt hatte, die Tochter des Gesetzeshüters Ravn und Ehefrau von Thorgrim Sölvason. Zweitens verfiel die arme Steinnunn in geistige Umnachtung und starb. Und schließlich wurde Olaffson selbst am 14. September 1408 in der Kirche von Hvalsey mit dem grönländischen Mädchen Sigrid Björnsdotter getraut, wobei Brand Halldorsson, Thord Jorundarson, Thorbjorn Bardarson und Jon Jonsson als Trauzeugen fungiert hatten, nachdem zuvor an drei Sonntagen das Aufgebot für das glückliche Paar verlesen worden war, ohne dass jemand Einspruch erhoben hätte. Die knappen Berichte über die Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen, die Geisteskrankheit und die Eheschließung waren im europäischen Mittelalter das Alltagsgeschäft jeder christlichen Gesellschaft und liefern keinen Anhaltspunkt für Probleme. Sie sind die letzten eindeutigen schriftlichen Belege aus Normannisch-Grönland.
Wann die Östliche Siedlung verschwand, wissen wir nicht genau. Zwischen 1400 und 1420 wurde das Klima im Nordatlantik kälter und stürmischer, und über Schiffsreisen nach Grönland wird nicht mehr berichtet. Ein weibliches Kleidungsstück, das man auf dem Friedhof von Herjolfsnes ausgegraben hatte, wurde mit der Radiokarbonmethode auf das Jahr 1435 datiert; man kann also annehmen, dass einige Wikinger noch etliche Jahrzehnte überlebten, nachdem das letzte Schiff 1410 von Grönland abgelegt hatte, aber man sollte sich auf das Datum von 1435 nicht allzu sehr fixieren, denn bei der Radiokarbondatierung besteht immer eine statistische Unsicherheit von mehreren Jahrzehnten. Die nächsten eindeutig belegten Besuche von Europäern fanden erst zwischen 1576 und 1587 statt, als die britischen Entdecker Martin Frobisher und John Davis die Insel sichteten und dort an Land gingen. Sie stießen auf Inuit, waren von deren Fähigkeiten und Technologie sehr beeindruckt, trieben Handel mit ihnen und nahmen einige Ureinwohner gefangen, um sie nach England zu bringen und dort zur Schau zu stellen. Im Jahr 1607 machte sich eine dänischnorwegische Expedition gezielt auf den Weg zur Östlichen Siedlung, aber man ließ sich von dem Namen täuschen und nahm an, sie müsse an der Ostküste Grönlands liegen; deshalb fand sie keine Spuren der Wikinger. Von nun an und während des ganzen 17. Jahrhunderts machten immer wieder dänisch - norwegische Expeditionen sowie niederländische und britische Walfänger in Grönland Station und nahmen weitere Inuit gefangen; trotz ihres völlig anderen Äußeren und ihrer fremden Sprache nahm man (für uns heute völlig unverständlicherweise) an, sie seien
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