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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Östlichen Siedlung zurückging und alle Tiere der ärmeren Höfe gestorben oder aufgegessen waren, dürften deren Siedler sich in die besten Höfe gedrängt haben, die noch ein paar Tiere besaßen: Brattahlid, Hvalsey, Herjolfsnes und zuletzt Gardar. Die Autorität der Kirchenbeamten in der Kathedrale von Gardar und des dortigen Landbesitzers wurden so lange anerkannt, wie sie und die Macht Gottes ihre Untergebenen und Anhänger sichtbar schützten. Aber Hungersnot und die damit verbundenen Krankheiten führten dazu, dass der Respekt vor Autoritäten schwand, ganz ähnlich wie der griechische Historiker Thukydides es 2000 Jahre zuvor in seinem erschreckenden Bericht über die Pest in Athen beschrieben hatte. Hungernde Menschen strömten nach Gardar, und die Häuptlinge und Kirchenoberen, die nun in der Minderzahl waren, konnten nicht mehr verhindern, dass die letzten Rinder und Schafe geschlachtet wurden. Die Versorgung hätte in Gardar vermutlich ausgereicht, um die eigenen Bewohner am Leben zu erhalten, wenn man die Nachbarn hätte aussperren können, so aber wurden die Vorräte im letzten Winter verbraucht: Alle wollten in das überbesetzte Rettungsboot klettern und aßen Hunde, neu geborenes Vieh und die Beine der Kühe, wie sie es am Ende in der Westlichen Siedlung getan hatten.
    Ich stelle mir in Gardar eine ganz ähnliche Szene vor, wie sie sich in meiner Heimatstadt Los Angeles 1991 zur Zeit der so genannten Rodney-King-Unruhen abspielte: Damals provozierte der Freispruch von Polizisten, die wegen Misshandlung eines armen Menschen angeklagt waren, Tausende von empörten Menschen aus armen Stadtvierteln zum Marsch auf wohlhabende Firmen und reiche Wohnviertel. Die Polizei war hoffnungslos in der Minderzahl und konnte nicht mehr tun, als die Zufahrtsstraßen zu reichen Stadtvierteln mit gelben Kunststoffbändern abzusperren, eine nutzlose Geste mit dem Ziel, die Plünderer fern zu halten. Ein ähnliches Phänomen beobachten wir heute zunehmend im globalen Maßstab: Einwanderer aus armen Ländern strömen in die Rettungsboote, zu denen die reichen Staaten geworden sind, und unsere Grenzpolizei ist kaum besser in der Lage, den Zustrom aufzuhalten, als die Häuptlinge von Gardar und die gelben Bänder von Los Angeles. Diese Parallele ist ein weiterer Grund, warum wir das Schicksal von Normannisch-Grönland nicht als Problem einer kleinen Randgesellschaft in einer empfindlichen Umwelt abtun sollten, das für unsere große Gesellschaft ohne Bedeutung ist. Auch die Östliche Siedlung war größer als die Westliche, aber das Ergebnis war das Gleiche; es dauerte nur länger.
    Waren die Wikinger in Grönland von Anfang an zum Untergang verdammt? Wollten sie eine Lebensweise praktizieren, mit der sie keinen Erfolg haben konnten, sodass es letztlich nur eine Frage der Zeit war, bis sie verhungerten? Waren sie hoffnungslos im Nachteil gegenüber sämtlichen amerikanischen Ureinwohnern, die als Jäger und Sammler schon Jahrtausende vor der Ankunft der Normannen immer wieder von Grönland Besitz ergriffen hatten?
    Das glaube ich nicht. Wie gesagt: Vor den Inuit waren amerikanische Jäger und Sammler bereits in mindestens vier Wellen aus der kanadischen Arktis nach Grönland eingewandert, und ein Volk nach dem anderen war ausgestorben. Klimaschwankungen in der Arktis hatten dazu geführt, dass die großen Beutetiere, die für Jäger lebenswichtig sind - Karibus, Robben und Wale - weit wanderten, in stark schwankender Zahl vorkamen oder ganze Gebiete vorübergehend verließen. Die Inuit konnten sich zwar nach ihrer Ankunft acht Jahrhunderte lang in Grönland halten, aber auch auf sie wirkten sich die Schwankungen in der Zahl der Beutetiere aus. Die Archäologen haben viele Inuithäuser entdeckt, die wie Zeitkapseln dicht verschlossen waren; im Inneren fanden sie ganze Familien, die in dem Haus während eines strengen Winters verhungert waren. Während der dänischen Kolonialzeit kam es häufig vor, dass ein Inuit mit letzter Kraft in eine dänische Siedlung wankte und erklärte, er sei der letzte Überlebende einer Siedlung, in der alle anderen Bewohner verhungert seien.
    Im Vergleich zu den Inuit und allen früheren Gesellschaften von Jägern und Sammlern in Grönland hatten die Wikinger den großen Vorteil, dass sie über eine zusätzliche Nahrungsquelle verfügte: das Vieh. Die amerikanischen Ureinwohner konnten sich als Jäger nur auf eine einzige Weise die biologische Produktivität der grönländischen Landpflanzen

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