Kollaps
nichts Geringeres als die Nachfahren der blauäugigen, blonden Wikinger.
Im Jahr 1721 schließlich reiste der norwegische lutherische Missionar Hans Egede nach Grönland. Er war überzeugt, die entführten Inuit seien tatsächlich katholische Wikinger, die von den Europäern vor der Reformation im Stich gelassen worden waren, zum Heidentum zurückgekehrt waren und nun erpicht darauf sein müssten, dass ein christlicher Missionar sie zur lutherischen Lehre bekehrte. Zufällig landete er zuerst an den Fjorden der Westlichen Siedlung, und dort fand er zu seiner Überraschung nur Menschen vor, die eindeutig Inuit und keine Wikinger waren, ihm aber die Ruinen der früheren Wikingerhöfe zeigten. Da auch Egede glaubte, die Östliche Siedlung müsse an der Ostküste der Insel liegen, suchte er dort und fand keine Spuren der Wikinger. Im Jahr 1723 zeigten die Inuit ihm an der Südwestküste, wo nach unserer heutigen Kenntnis die Östliche Siedlung lag, noch größere normannische Ruinen, darunter auch die Kirche von Hvalsey. Nun musste er sich eingestehen, dass die Wikingersiedlung tatsächlich verschwunden war, und er begann nach des Rätsels Lösung zu suchen. Von den Inuit hörte Egede mündlich überlieferte Geschichten über wechselnde Phasen der Konflikte und der friedlichen Beziehungen zur früheren Wikingerbevölkerung, und er fragte sich, ob die Normannen wohl von den Inuit ausgerottet worden waren. Seither haben Generationen von Besuchern und Archäologen sich darum bemüht, die Antwort zu finden.
Man muss sich darüber im Klaren sein, worin das Rätsel besteht. Die tieferen Ursachen für den Niedergang der Wikinger stehen außer Zweifel, und aus den archäologischen Untersuchungen an den obersten Schichten der Westlichen Siedlung erfahren wir etwas über den unmittelbaren Anlass des Zusammenbruchs im letzten Jahr der Siedlung. Entsprechende Informationen über die Vorgänge im letzten Jahr der Östlichen Siedlung besitzen wir jedoch nicht, denn dort wurden die oberen Schichten bisher nicht untersucht. Nachdem ich die Geschichte bis hierher erzählt habe, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, das Ende mit einigen Spekulationen auszuschmücken.
Für mich sieht es so aus, als sei die Östliche Siedlung nicht allmählich, sondern sehr plötzlich zusammengebrochen, ganz ähnlich, wie es in der Westlichen Siedlung und auch beim Zusammenbruch der Sowjetunion geschah. Die grönländische Wikingergesellschaft war ein heikel ausbalanciertes Kartenhaus, das letztlich nur durch die Autorität der Kirche und der Häuptlinge stehen blieb. Als die versprochenen Schiffe aus Norwegen nicht mehr kamen und das Klima kälter wurde, muss der Respekt vor diesen beiden Autoritäten ins Wanken geraten sein. Der letzte Bischof von Grönland starb um 1378, und aus Norwegen kam kein Nachfolger mehr. Aber soziale Legitimität hing in der normannischen Gesellschaft von einer ordnungsgemäß funktionierenden Kirche ab: Geistliche mussten von einem Bischof geweiht werden, und ohne geweihten Priester gab es keine Taufen, keine Eheschließungen und keine christlichen Bestattungen mehr. Wie konnte eine solche Gesellschaft weiterhin funktionieren, wenn schließlich der letzte Priester, der vom letzten Bischof geweiht worden war, starb ? Auch die Autorität eines Häuptlings hing davon ab, dass dieser über genügend Mittel verfügte, die er in schlechten Zeiten an seine Anhänger verteilen konnte. Angenommen, die Menschen auf armen Höfen verhungerten, während der Häuptling nebenan auf einem reicheren Hof überlebte: Hätten die ärmeren Bauern dann ihrem Anführer noch bis zum letzten Atemzug gehorcht?
Die Östliche Siedlung lag viel weiter südlich als die Westliche, eignete sich besser für die Heuproduktion, beherbergte mehr Menschen (4000 im Vergleich zu 1000) und war deshalb weniger stark durch einen Zusammenbruch gefährdet. Auf lange Sicht war das kältere Klima für die Östliche Siedlung natürlich ebenso schädlich wie für die Westliche, aber in der Östlichen Siedlung war eine längere Reihe kalter Jahre notwendig, bis die Herden dezimiert waren und die Menschen hungerten. Man kann sich ausmalen, wie die kleineren Höfe am Rand der Östlichen Siedlung allmählich aushungerten. Aber was könnte in Gardar geschehen sein, wo zwei Kuhställe 160 Tieren Platz boten und wo man Herden mit unzähligen Schafen hielt?
Nach meiner Vermutung ähnelte Gardar am Ende einem überfüllten Rettungsboot. Als die Heuproduktion in der
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