Kollaps
Umstände gefeiert haben. Auf dieses Dilemma werden wir im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Gesellschaften zurückkommen, die erfolgreich waren, weil sie herausfanden, an welchen innersten Werten sie nicht festhalten konnten.
Drittens verachteten die Wikinger wie andere Christen aus dem mittelalterlichen Europa die nichteuropäischen Heidenvölker, und sie hatten keine Erfahrungen im Umgang mit ihnen. Erst nachdem 1492 mit Kolumbus’ Reisen das Zeitalter der Entdeckungen begonnen hatte, lernten die Europäer die machiavellistischen Methoden, mit denen man indigene Völker zum eigenen Vorteil ausbeuten konnte, obwohl man sie weiterhin verachtete. Deshalb weigerten sich die Wikinger, von den Inuit zu lernen, und vermutlich verhielten sie sich so, dass die feindseligen Gefühle bestätigt wurden. Später gingen auch viele andere Gruppen von Europäern in der Arktis auf ganz ähnliche Weise zugrunde, weil sie die Inuit ignorierten oder bekämpften. Am deutlichsten wird dies an den 138 britischen Mitgliedern der finanziell gut ausgestatteten Franklin-Expedition von 1845: Sie starben ohne Ausnahme, als sie Bereiche der kanadischen Arktis durchqueren wollten, die von Inuit bevölkert waren. Am besten kamen jene europäischen Entdecker und Siedler in der Arktis zurecht, die wie Robert Peary und Roald Amundsen in besonders großem Umfang die Methoden der Inuit übernahmen.
Und schließlich konzentrierte sich die Macht in Normannisch-Grönland an der Spitze, in den Händen der Häuptlinge und Geistlichen. Ihnen gehörte das meiste Land (darunter ohne Ausnahme die besten Höfe), sie besaßen die Boote, und sie kontrollierten den Handel mit Europa. Ein großer Teil dieses Handels diente dem Import von Waren, die ihnen mehr Prestige verschafften: Luxusgüter für die reichsten Haushalte, Gewänder und Schmuck für die Geistlichen, Glocken und farbiges Glas für die Kirchen. Die wenigen Boote wurden unter anderem für die Jagd in der Nordrseta genutzt, bei der man sich die Luxus-Exportgüter (beispielsweise Elfenbein und Eisbärfellen) zur Bezahlung der Importe beschaffte. Die Häuptlinge hatten zwei Motive, große Schafherden zu halten, die das Land durch Überweidung schädigen konnte: Wolle war Grönlands zweites wichtiges Exportgut, mit dem man die Importe bezahlen konnte, und unabhängige Bauern konnte man auf überweidetem Land leichter in ein Lehensverhältnis zwingen, sodass sie als Gefolgsleute in der Konkurrenz mit anderen Häuptlingen von Nutzen waren. Die Wikinger hätten ihre materiellen Bedingungen durch zahlreiche Neuerungen verbessern können, beispielsweise wenn sie mehr Eisen und weniger Luxusgüter importiert hätten, wenn sie die Boote während längerer Zeit dazu benutzt hätten, nach Markland zu fahren und dort sowohl Eisen als auch Holz zu holen, oder wenn sie die Inuit nachgeahmt oder andere Verfahren für Bootsbau und Jagd entwickelt hätten. Aber solche Neuerungen hätten die Macht, das Ansehen und die eng gefassten Interessen der Häuptlinge bedroht. In der streng kontrollierten, verflochtenen Gesellschaft von Normannisch-Grönland konnten die Häuptlinge verhindern, dass andere solche Neuentwicklungen ausprobierten.
Durch die Gesellschaftsstruktur der Wikinger entstand also ein Konflikt zwischen den kurzfristigen Interessen der Machthaber und den langfristigen Interessen der Gesamtgesellschaft. Vieles von dem, was Häuptlinge und Geistliche schätzten, erwies sich für die Gesellschaft als schädlich. Aber die Werte der Gesellschaft bildeten die Wurzel sowohl für ihre Stärken als auch für ihre Schwäche. Es gelang den Wikingern, in Grönland eine einzigartige Form einer europäischen Gesellschaft zu schaffen und 450 Jahre lang als abgelegenster Außenposten Europas zu überleben. Wir modernen Amerikaner sollten ihr Schicksal nicht allzu voreilig als Versagen brandmarken: Ihre Gesellschaft überlebte in Grönland länger, als es unserer Englisch sprechenden Gesellschaft in Nordamerika bisher gelungen ist. Am Ende jedoch standen die Häuptlinge ohne Gefolgsleute da. Das letzte Recht, das sie für sich selbst in Anspruch nehmen konnten, war das Recht, als Letzte zu verhungern.
KAPITEL 9
Auf entgegengesetzten Wegen zum Erfolg
Von unten nach oben, von oben nach unten ■
Das Hochland von Neuguinea Tikopia ■ Probleme in der Tokugawazeit ■ Lösungen in der Tokugawazeit ■ Das japanische Erfolgsrezept ■ Andere Erfolge
In den vorangegangenen Kapiteln wurden sechs frühere Gesellschaften
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