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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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zunutze machen: indem sie die Karibus (und als kleinere Nahrungslieferanten die Hasen) erlegten, die sich von den Pflanzen ernährten. Die Wikinger aßen ebenfalls Karibus und Hasen, aber zusätzlich sorgten sie dafür, dass ihre Kühe, Schafe und Ziegen die Pflanzen in Milch und Fleisch verwandelten. Deshalb verfügten die Wikinger potenziell über eine breitere Nahrungsgrundlage als alle früheren Bewohner Grönlands, und entsprechend besser waren ihre Überlebensaussichten. Hätten sie nicht nur einige wilde Nahrungsmittel verzehrt, die auch die amerikanischen Ureinwohner in Grönland nutzten (insbesondere Karibus, wandernde Robben und Seehunde), sondern darüber hinaus auch noch die anderen Nahrungsmittel der Ureinwohner ausgebeutet (insbesondere Fisch, Ringelrobben und nicht nur jene Wale, die strandeten), hätten sie wahrscheinlich überlebt. Dass sie auf Ringelrobben, Fische und Wale keine Jagd machten, obwohl sie sahen, dass die Inuit es taten, war ihre eigene Entscheidung. Die Wikinger verhungerten inmitten einer Fülle ungenutzter Nahrungsressourcen. Warum trafen sie diese Entscheidung, die aus unserer Sicht im Rückblick der reine Selbstmord war?
    Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Beobachtungen, Werte und früheren Erfahrungen waren die Entscheidungen der Wikinger nicht stärker selbstmörderisch als jene, die wir heute treffen. Ihre Sichtweise war von vier Überlegungen geprägt. Erstens ist es selbst für moderne Ökologen und Agrarwissenschaftler schwierig, unter den wechselnden Umweltbedingungen Grönlands den Lebensunterhalt zu sichern. Die Wikinger hatten das Glück oder das Pech, dass sie zu einer Zeit mit relativ mildem Klima nach Grönland kamen. Da sie in den vorangegangenen 1000 Jahren nicht dort gelebt hatten, verfügten sie nicht über die Erfahrung der Zyklen von Kalt und Warm, und sie konnten nicht voraussehen, dass sie mit ihrer Viehhaltung später auf Probleme stoßen würden, wenn das Klima in Grönland den kalten Teil des Zyklus durchlief. Nachdem die Dänen im 20. Jahrhundert wieder Schafe und Kühe nach Grönland eingeführt hatten, begingen sie ebenfalls Fehler: Mit zu hohen Schafbeständen setzten sie die Bodenerosion in Gang, und die Rinderhaltung gaben sie sehr schnell wieder auf. Heute kann Grönland sich nicht selbst versorgen, sondern es ist stark auf dänische Entwicklungshilfe und auf die Zahlungen der Europäischen Union für die Fischereikonzessionen angewiesen. Selbst nach heutigen Maßstäben vollbrachten also die Wikinger, die im Mittelalter eine vielschichtige Mischung von Tätigkeiten entwickelten und sich damit 450 Jahre lang am Leben erhielten, eine beeindruckende und keineswegs selbstmörderische Leistung.
    Zweitens kamen die Wikinger nicht mit einem unvoreingenommenen Bewusstsein nach Grönland, das sie für jede Lösung der Probleme ihres Landes aufgeschlossen gemacht hätte. Wie alle Völker, die in der Geschichte Kolonien gründeten, brachten sie ihre eigenen Kenntnisse, ihre kulturellen Werte und ihre bevorzugte Lebensweise mit, die sich auf die Erfahrungen vieler Generationen in Norwegen und Island stützten. Sie hielten sich für Milchbauern, Christen, Europäer und insbesondere für Normannen. Ihre norwegischen Vorfahren praktizierten schon seit 3000 Jahren erfolgreich die Milchwirtschaft. Sie waren durch gemeinsame Sprache, Religion und Kultur an Norwegen gebunden, genau wie Amerikaner und Australier, die durch die gleichen Attribute jahrhundertelang an Großbritannien gebunden waren. Alle grönländischen Bischöfe waren Norweger, die man auf die Insel entsandt hatte, aber keine Wikinger, die dort groß geworden waren. Ohne ihre gemeinsamen norwegischen Werte hätten die Wikinger in Grönland nicht zusammenarbeiten und überleben können. Unter diesem Gesichtspunkt versteht man, dass sie in Kühe, in die Jagd in der Nordrseta und in Kirchen investierten, obwohl sie ihre Energie damit nach rein wirtschaftlichen Kriterien nicht optimal nutzten. Und ihren Untergang verdankten die Wikinger dem gleichen sozialen Zusammenhalt, der sie auch in die Lage versetzt hatte, die Schwierigkeiten Grönlands zu meistern. Wie sich herausstellt, ist dies ein gemeinsames Thema in der gesamten Geschichte und auch in unserer heutigen Welt. Wir haben es bereits im Zusammenhang mit Montana (Kapitel 1) erfahren: Die Werte, an denen die Menschen unter ungeeigneten Bedingungen am hartnäckigsten festhalten, sind genau jene, durch die sie zuvor ihre größten Triumphe über widrige

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