Kollaps
- 1998 -wieder dorthin, und seitdem besuchte ich die Gegend mindestens ein Mal im Jahr. Zu meinen besonders lebhaften Jugenderinnerungen gehörte das Bild des Schnees, der selbst im Sommer die Berggipfel in der Ferne bedeckte und bei mir das Gefühl hervorrief, die Niederung sei unterhalb des Himmels von einem weißen Band eingeschlossen. Ich weiß noch, wie ich mit zwei Freunden am Wochenende eine Campingtour unternahm und bis zu diesem magischen Band aus Schnee hinaufkletterte. Da ich die Schwankungen und das allmähliche Verschwinden des sommerlichen Schnees in den dazwischenliegenden 42 Jahren nicht miterlebt hatte, war ich 1998 bei meiner Rückkehr ins Big Hole Basin verblüfft und bestürzt, dass das weiße Band fast weg war; in den Jahren 2001 und 2003 war es dann tatsächlich vollständig abgeschmolzen. Als ich meine ortsansässigen Bekannten auf den Wandel ansprach, waren sie sich der Veränderung kaum bewusst: Unbewusst hatten sie das Band (oder sein Fehlen) jedes Jahr nur mit wenigen vorangegangenen Jahren verglichen. Schleichende Normalität und Vergesslichkeit machen es ihnen schwerer als mir, sich an die Verhältnisse während der fünfziger Jahre zu erinnern. Solche Erfahrungen sind ein wichtiger Grund, warum die Menschen ein Problem unter Umständen erst dann wahrnehmen, wenn es zu spät ist.
Nach meiner Vermutung ist die Landschaftsvergesslichkeit auch zumindest ein Teil der Antwort auf die Frage meiner Studenten, was der Bewohner der Osterinsel wohl sagte, der den letzten Baum abholzte. Unbewusst stellen wir uns eine plötzliche Veränderung vor: In einem Jahr ist die Insel noch mit einem Wald aus hohen Palmen bedeckt, die Wein, Früchte und die Balken für Transport und Aufbau der Statuen liefern; im folgenden Jahr ist nur noch ein einziger Baum übrig, den ein Inselbewohner in einem Anfall von unglaublicher Dummheit fällt. In Wirklichkeit kam es höchstwahrscheinlich von Jahr zu Jahr zu einer fast unmerklichen Veränderung der Waldbestände: Ja, dieses Jahr fällen wir da drüben ein paar Bäume, aber hier, auf diesem aufgegebenen Feld, wachsen schon wieder die ersten Keimlinge. Ein Unterschied war vermutlich nur für die ältesten Inselbewohner zu erkennen, die sich an ihre Kindheit und die Zeit vor Jahrzehnten erinnerten. Ihre Kinder konnten die Erzählungen der Eltern über einen hohen Wald vermutlich ebenso wenig begreifen wie meine siebzehnjährigen Söhne, denen meine Frau und ich davon berichten, wie Los Angeles vor 40 Jahren aussah. Auf der Osterinsel wurden die Bäume immer weniger, kleiner und unwichtiger. Als die letzte ausgewachsene, früchtetragende Palme gefällt wurde, besaß die Spezies schon längst keinerlei wirtschaftliche Bedeutung mehr. Nun blieben zum Abholzen von Jahr zu Jahr nur noch kleine und immer kleinere Palmen-Keimlinge sowie andere Büsche und Bäumchen. Niemandem fiel es auf, als der letzte kleine Palmen-Keimling fiel. Die Erinnerung an den wertvollen Palmenwald, der vor Jahrhunderten auf der Insel gestanden hatte, war längst der Landschaftsvergesslichkeit zum Opfer gefallen. Umgekehrt wurden die Wälder im Japan der frühen Tokugawazeit so schnell zerstört, dass die Veränderungen der Landschaft und die Notwendigkeit vorbeugender Maßnahmen für die shoguns viel einfacher zu erkennen waren.
Der dritte Schritt auf dem Weg zum Versagen ist der häufigste und überraschendste. Er erfordert die ausführlichste Beschreibung, weil er vielfältige Formen annehmen kann.
Anders als Joseph Tainter und fast alle anderen angenommen haben, bemühen sich Gesellschaften häufig selbst dann nicht um die Lösung eines Problems, wenn es ihnen aufgefallen ist. Die Gründe für eine solche Unterlassung fallen zum großen Teil unter einer Überschrift, die Wirtschaftsfachleute und andere Sozialwissenschaftler als »rationales Verhalten« bezeichnen. Die Ursache sind Interessenkonflikte zwischen Menschen, das heißt, manche Menschen kommen auf den richtigen Gedanken, dass es ihren eigenen Interessen nützt, wenn ihr Verhalten anderen Menschen schadet. Als »rational« bezeichnen Wissenschaftler solche Verhaltensweisen gerade deshalb, weil sie einer vernünftigen Überlegung erwachsen, auch wenn diese ethisch angreifbar ist. Die Täter wissen, dass sie häufig mit ihrem schlechten Verhalten davonkommen, insbesondere wenn dieses nicht durch Gesetze verboten ist oder wenn die Gesetze nicht effizient durchgesetzt werden. Sie wiegen sich in Sicherheit, weil es sich in der Regel nur um
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