Kollaps
der vorteilhaften Perspektive des Rückblicks erscheint es uns heute unglaublich dumm, dass die Siedler in Australien absichtlich zwei fremde Säugetiere freiließen, die mittlerweile durch unmittelbare Schäden und Bekämpfungsmaßnahmen Kosten in Milliardenhöhe verursacht haben. Heute wissen wir aus vielen anderen, ähnlichen Beispielen, dass die Einführung fremder Arten sich sehr häufig aus ganz unerwarteten Gründen als Katastrophe erweist. Deshalb wird man heute als Besucher oder zurückkehrender Einwohner bei der Einreise nach Australien, in die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union vom Grenzbeamten sofort gefragt, ob man Pflanzen, Samen oder Tiere bei sich hat: Damit soll die Gefahr vermindert werden, dass solche Organismen freigesetzt werden und sich ausbreiten. Aus einer Fülle früherer Erfahrungen haben wir heute (häufig, aber nicht immer) gelernt, zumindest die potenziellen Gefahren eingeschleppter biologischer Arten vorauszusehen. Aber selbst professionelle Ökologen können häufig nicht voraussagen, in welchen Fällen die Einbürgerung solcher Arten gelingt, wann eine solche erfolgreiche Einbürgerung sich als Katastrophe erweist und warum die gleiche Art sich an manchen Stellen nach dem Einschleppen durchsetzt, an anderen jedoch nicht. Deshalb sollten wir uns eigentlich nicht wundern, dass die Australier des 19. Jahrhunderts, die noch nicht unsere Erfahrungen mit den katastrophalen Folgen des Einschleppens gemacht hatten, die Auswirkungen der Kaninchen und Füchse nicht voraussahen.
In diesem Buch haben wir zahlreiche weitere Fälle kennen gelernt, in denen Gesellschaften verständlicherweise ein Problem nicht voraussahen, weil sie zuvor damit noch keine Erfahrung gemacht hatten. Als die grönländischen Wikinger stark in die Walrossjagd investierten, um das Elfenbein der Tiere nach Europa zu exportieren, konnten sie wohl kaum voraussehen, dass die Kreuzzüge den Europäern wieder den Zugang zu asiatischem und afrikanischem Elefanten-Elfenbein eröffnen würde, sodass für Walross-Elfenbein kein Bedarf mehr bestand. Ebenso wenig konnten sie wissen, dass immer mehr Meereis den Schiffsverkehr nach Europa behindern würde. Und die Maya von Copan, die schließlich keine Bodenkundler waren, konnten nicht voraussehen, dass der Boden von den Berghängen nach der Zerstörung der Wälder in die Täler gespült werden würde.
Aber auch frühere Erfahrungen bieten nicht die Gewähr, dass eine Gesellschaft ein Problem voraussieht. Unter Umständen ist die Erfahrung schon so alt, dass sie in Vergessenheit geraten ist. Dieses Problem stellt sich insbesondere bei Gesellschaften, in denen sich keine Schrift entwickelt hat, sodass sie die Erinnerung an längst vergangene Ereignisse mit den begrenzten Möglichkeiten der mündlichen Überlieferung viel weniger gut aufrechterhalten können. Wie wir beispielsweise in Kapitel 4 erfahren hatten, überstand die Gesellschaft der Anasazi im Chaco Canyon mehrere Trockenperioden, bevor sie im 12. Jahrhundert durch eine große Dürre zugrunde ging. Die früheren Dürreperioden hatten sich lange vor der Geburt jener Anasazi ereignet, die von der großen Dürre betroffen waren, und da ihre Gesellschaft keine Schrift besaß, konnten sie diese Krise nicht voraussehen. Ganz ähnlich erging es den Maya in den Niederungen: Auch sie fielen im 9. Jahrhundert einer Dürre zum Opfer, obwohl es solche Trockenzeiten in ihrer Region einige Jahrhunderte zuvor bereits gegeben hatte (Kapitel 5). Die Maya besaßen sogar eine Schrift, aber sie hielten damit keine Wetterberichte fest, sondern nur die Taten ihrer Könige und astronomische Ereignisse; deshalb versetzte auch die Dürre des 3. Jahrhunderts die Maya nicht in die Lage, im 9. Jahrhundert eine Trockenperiode vorauszusehen.
Aber auch in modernen Gesellschaften, in deren schriftlichen Aufzeichnungen es nicht nur um Könige und Planeten geht, greifen nicht zwangsläufig auf frühere, schriftlich überlieferte Erfahrungen zurück. Auch wir neigen dazu, Dinge zu vergessen. Nach der Ölkrise von 1973 mit ihrer Benzinknappheit schreckten wir in Amerika ein oder zwei Jahre lang vor Treibstoff fressenden Autos zurück, aber dann vergaßen wir diese Erfahrung, und heute fahren wir SUVs, obwohl über die Ereignisse von 1973 jede Menge Druckerschwärze vergossen wurde. Als die Stadt Tucson in Arizona in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine schwere Dürre erlebte, schworen sich die beunruhigten Bürger, sie würden ihr Wasser
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