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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Intellektuellen und Facharbeiter - kurz, die Schachspieler. Der zweite Anführer war ein athletischer und gut aussehender jüngerer Mann, möglicherweise ein ehemaliger Fabrikarbeiter. Der perfekte Sowjet also, und dennoch war er eingesperrt worden. Ihm folgten die Jüngeren und Stärkeren nach - die Männer der Tat. Der dritte war ein etwa vierzigjähriger Ganove mit schmalen Augen, Zahnlücken und einem Haifischgrinsen. Er hatte den Mantel des Kommandanten für sich reklamiert, der ihm allerdings zu lang war und im Schnee schleifte wie ein kaiserliches Gewand. Seine Anhängerschaft bestand aus den anderen wory - Dieben und Mördern. Drei Gruppen also, jede mit ihrem eigenen Anführer und jede mit ihren eigenen Vorstellungen. Und die Meinungsunterschiede traten unmittelbar zutage.
    Lasar, dem der rothaarige Georgi seine Stimme lieh, mahnte zu Vorsicht und Ordnung. »Wir müssen Beobachtungsposten einrichten. Die Grenzen des Lagers müssen bewaffnet werden.«
    Nach Jahren der Übung konnte Georgi gleichzeitig sprechen und Lasar zuhören. »Außerdem müssen wir unsere Lebensmittelvorräte bewachen und rationieren. Wir dürfen nicht Amok laufen. Wir brauchen Ordnung.«
    Der Arbeiter, der mit seinem kantigen Gesicht aussah wie einem Propagandafilm entsprungen, widersprach. »Uns steht so viel Essen zu, wie wir wollen, und der ganze Alkohol, den wir auftreiben können. Schließlich haben wir keinen Lohn erhalten und uns dafür, dass wir die Freiheit errungen haben, auch etwas verdient.«
    Der Chef der wory in seinem Rentiermantel hatte nur einen Wunsch. »Nach diesen ewigen Vorschriften wollen wir einfach machen, was uns passt.«
    Es gab noch eine vierte Gruppe von Häftlingen. Eigentlich keine richtige Gruppe, eher ein Haufen Einzelgänger, die keinem Anführer folgten, sondern sich nur an ihrer Freiheit berauschten. Einige rannten wie Wildpferde von einer Baracke zur nächsten, durchwühlten alles und jauchzten auf, wenn sie etwas gefunden hatten. Entweder hatte die ausbrechende Gewalt sie verrückt werden lassen, oder sie waren immer schon verrückt gewesen und konnten es nun endlich ausleben. Andere lagen schlafend in den bequemen Betten des Wachpersonals, für sie bedeutete Freiheit einfach nur, die Augen zumachen zu können, wenn man müde war. Wieder andere lagen im Morphiumrausch da oder hatten sich mit dem Wodka ihrer ehemaligen Peiniger betrunken. Lachend schnitten sie Löcher in die Zäune, bogen den verhassten Stacheldraht zu irgendwelchem Zierrat zurecht und staffierten damit die Wärter aus, von denen sie früher herumkommandiert worden waren. Sie drückten ihnen Stacheldrahtkronen auf den Kopf und verhöhnten sie lärmend als Söhne Gottes. »Kreuzigt die verdammten Schweine!«
    Als Lasar sah, welche Anarchie rings um sie herrschte, mahnte er erneut. Er flüsterte Georgi ins Ohr, der die Worte wiederholte. »Wir müssen unbedingt die Vorräte kontrollieren. Ein Hungernder kann sich leicht zu Tode essen. Außerdem muss die Zerstörung des Zauns aufhören. Der Zaun schützt uns vor den Soldaten, die unweigerlich hier eintreffen werden. Vollkommene Freiheit können wir nicht zulassen, sonst überleben wir die Sache nicht.«
    Nach dem Schweigen des wory-Anführers zu urteilen, war das meiste ohnehin schon geplündert worden. Die wertvollsten Dinge befanden sich bereits in den Händen seiner Bande.
    Der Arbeiter mit dem kantigen Gesicht, dessen Namen Leo nicht kannte, erklärte sich damit einverstanden, dass man einige der von Lasar vorgeschlagenen Schritte einleitete. Gegen praktische Maßnahmen war nichts zu sagen, solange man nur umgehend damit anfing, die gefangen genommenen Wachleute abzuurteilen.
    »Meine Männer verlangen Gerechtigkeit! Und zwar sofort! Jahrelang haben sie darauf gewartet! Sie haben eine Menge durchgemacht! Sie können nicht mehr länger warten!«
    Er sprach in Parolen, und jeder seiner Sätze endete mit einem Ausrufezeichen. Lasar gefiel es zwar nicht, dass man die praktischen Maßnahmen hinauszögerte, dennoch gab er in der Hoffnung auf Unterstützung nach. Man würde also über die Wachen Gericht halten. Auch über Leo.

    * * *

    Einer von Lasars Anhängern war in seinem, wie er es nannte, früheren Leben Anwalt gewesen. Nun machte er es sich zur Aufgabe, ein Tribunal einzuberufen, von dem Leo und die anderen gerichtet werden sollten. Genüsslich dachte er sich dafür ein eigenes Rechtssystem aus. Nach Jahren unterwürfigen Katzbuckelns war er jetzt überaus erfreut, endlich wieder

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