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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Brust fallen würde. Schließlich hatte sie sie auf den Boden geschnippt und ihn mit einem Nicken in Richtung seiner Lenden gefragt, worauf er denn noch warte. Er hatte an seinem Gürtel herumgefingert, ihn erst abgelegt, dann wieder angelegt und ihr schließlich gesagt, er wolle nicht. Das Geld könne sie behalten, wenn sie nur den anderen nichts sagte. Achselzuckend hatte sie ihn angewiesen, sich hinzusetzen und fünf Minuten zu warten, danach konnte er gehen. Dass er länger durchhielt, würden die anderen sowieso nicht glauben. Also hatte Malysch sich aufs Bett gesetzt und war nach fünf Minuten gegangen. Als er schon im Flur gewesen war, mit einer gut zurechtgelegten Lüge, hatte die Frau den anderen zugerufen, sie hätten recht gehabt: Er habe gekniffen. Die wory hatten gekichert wie Hexen, und sogar Frajera schien von ihm enttäuscht zu sein.
    Als er jemanden hinter sich hörte, wirbelte Malysch herum und zog sein Messer, doch dieser Jemand packte seine Hand und entwand es ihm.
    Frajera klappte die Klinge zu und gab ihm das Messer zurück. Dann beugte sie sich über seine Schulter und linste in die Zelle. »Wunderschön, nicht wahr?«
    Malysch gab keine Antwort.
    Von oben herab musterte Frajera ihn. »Es kommt nicht oft vor, dass jemand sich an dich heranschleichen kann, Malysch.«
    »Ich habe die Gefangene kontrolliert.«
    »Kontrolliert?«
    Er wurde rot. Frajera legte ihm den Arm auf die Schulter und fügte hinzu: »Ich will, dass sie dich bei deinem nächsten Auftrag begleitet.«
    Fragend sah Malysch zu Frajera hoch. »Die Gefangene?«
    »Nenn sie bei ihrem Namen.«
    »Soja.«
    »Sie hat mehr Grund als so mancher andere, die Tschekisten zu hassen. Sie haben ihre Eltern umgebracht.«
    »Sie kann nicht kämpfen. Überhaupt nicht zu gebrauchen. Sie ist doch nur ein Mädchen.«
    »Ich war auch mal ein Mädchen.«
    »Du bist anders.«
    »Sie auch.«
    »Vielleicht versucht sie abzuhauen. Oder sie ruft um Hilfe.«
    »Warum fragst du sie nicht? Sie hört uns zu.«
    Einen Moment lang schwiegen sie. Dann rief Frajera in die Zelle hinein: »Ich weiß, dass du wach bist.«
    Soja setzte sich auf und blickte die beiden an. Dann sprach sie. »Ich habe nie etwas anderes behauptet.«
    »Ich hätte einen Vorschlag für ein tapferes junges Mädchen. Willst du Malysch bei seinem nächsten Einsatz begleiten?«
    Soja starrte den Jungen an. »Um was geht es dabei?«
    »Darum, einen Tschekisten zu töten«, antwortete Frajera.

Kolyma
    Gulag 57

    Am selben Tag

    Die beiden wachta waren nur noch schwelende Trümmerhaufen. Das Holz war verkohlt, nur gelegentlich züngelten noch Flammen aus der glühenden Asche. Rauchschwaden erhoben sich in den nächtlichen Himmel und trugen die Asche von mindestens acht Wachmännern davon, deren letzte Tat auf Erden es nun war, ein paar Sterne zu verdunkeln, bevor sie über die Hochebene verstreut wurden. Andere Gulag-Wärter, die nicht in der Feuerhölle der wachta umgekommen waren, lagen über das ganze Lager verstreut, wo immer sie gestorben waren. Ein Toter hing aus einem Fenster heraus. Die Wut, mit der man ihn umgebracht hatte, ließ darauf schließen, dass er früher in seiner Pflichterfüllung besonders heimtückisch gewesen war. Die Sträflinge hatten ihn verfolgt, bis sie ihn gestellt hatten. Während er noch verzweifelt versucht hatte aus dem Fenster zu klettern, waren sie mit Fäusten und Messern auf ihn losgegangen. Seine Leiche hatten sie liegen lassen, sie hing über dem Fensterbrett wie eine Fahne ihres neuen Reiches.
    Die überlebenden Wachleute und die anderen Beschäftigten des Gulags, insgesamt etwa fünfzig Personen, hatte man in die Mitte der Verwaltungszone gepfercht. Die meisten waren verletzt. Ohne Decken oder medizinische Versorgung hockten sie im Schnee. Ihre Schmerzen, ihr Hunger und ihr Elend stießen auf dieselbe Gleichgültigkeit, die die Sträflinge früher am eigenen Leib erfahren hatten.
    Leos Rolle war anfangs unklar gewesen, doch schließlich hatte man ihn nicht den Häftlingen, sondern den Wärtern zugerechnet. Also saß auch er jetzt vor Kälte zitternd da und wurde Zeuge, wie alte Machtstrukturen zerfielen und neue sich bildeten.
    So weit er sehen konnte, gab es drei nicht gewählte Anführer - Männer, die sich ihre Autorität im Mikrokosmos ihrer jeweiligen Baracken aufgebaut hatten. Jeder von ihnen besaß seine eigene, eindeutig von den anderen abgegrenzte Anhängerschar.
    Einer der Anführer war Lasar. Zu seinen Leuten zählten die älteren Gefangenen, die

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