Kolyma
in dem autoritativen und gelehrten Ton sprechen zu können, der ihm doch eigentlich am besten lag.
»Wir sind uns hoffentlich einig, dass nur die Wachleute abgeurteilt werden. Das Sanitätspersonal und die ehemaligen Gefangenen, die angefangen haben, für die Verwaltung des Gulags zu arbeiten, sind tabu.«
Der Vorschlag wurde angenommen, und der Anwalt fuhr fort: »Wir halten Gericht auf der Treppe zum Büro des Kommandanten. Jeder Wärter wird einzeln zur untersten Stufe geführt. Wir als freie Männer werden Beispiele für die Brutalität dieser Leute zu Protokoll geben. Wenn ein Vorfall als zutreffend erachtet wird, erklimmt der Wärter eine Stufe. Wenn er bis ganz nach oben gestiegen ist, wird er exekutiert. Sollten ihm aber, auch wenn er schon auf der vorletzten Stufe steht, keine weiteren Verbrechen mehr angelastet werden können, darf er wieder hinabsteigen und sich setzen.«
Leo zählte die Treppenstufen. Alles in allem waren es dreizehn. Da man auf der untersten Stufe anfing, waren es also bis ganz nach oben zwölf Vergehen. Bei zwölf starb man, bei elf oder weniger blieb man am Leben.
Mit tieferer Stimme, die einen gravitätischen Ton vermitteln sollte, rief der Anwalt: »Kommandant Schores Sinjawski.«
Sinjawski wurde auf die unterste Treppenstufe geführt und richtete den Blick auf seine Richter. Seine Schulter war notdürftig verbunden worden, damit die Blutung zum Stillstand kam und er lange genug am Leben blieb, um der Gerechtigkeit ins Auge zu sehen. Sein Arm hing schlaff herunter. Dennoch lächelte er wie ein Kind in einem Schultheater und suchte in den Reihen der versammelten Gefangenen nach einem wohlwollenden Gesicht. Verteidigung und Anklage hatten hier keine eigenen Vertreter, für beide Seiten waren die Häftlinge insgesamt zuständig. Das Urteil wurde kollektiv gefällt.
Beinahe unverzüglich erhob sich ein Stimmengewirr. Durcheinander und unverständlich wurden Beleidigungen und Beispiele für die Verbrechen des Kommandanten herausgeschrien.
Der Anwalt hob den Arm und bat um Ruhe. »Einer nach dem anderen. Ich nehme alle dran, und dann dürfen sie sprechen. Jeder kann sich zu Wort melden.«
Er deutete auf einen der Häftlinge, einen älteren Mann. Der Gefangene rührte sich nicht.
»Du kannst die Hand jetzt herunternehmen«, sagte der Anwalt. »Sprich.«
»Meine Hand ist der Beweis für sein Vergehen.«
Zwei Finger fehlten, sie waren bis auf zwei schwarze Stümpfe am Knöchel abgetrennt.
»Sie sind erfroren. Keine Handschuhe bei Minus fünfzig Grad. Wenn man bei so einer Temperatur ausspuckt, ist die Spucke schon gefroren, noch bevor sie am Boden aufkommt. Trotzdem hat er uns noch rausgeschickt, bei einem Wetter, das nicht mal zum Spucken taugte! Aber er hat uns rausgeschickt! Tag für Tag! Zwei Finger, das macht zwei Stufen.«
Alle johlten zustimmend. Der Anwalt strich sich die graue, baumwollene Sträflingsjacke glatt, als sei sie eine Richterrobe. »Es geht hier nicht darum, wie viele Finger du verloren hast. Du führst unmenschliche Arbeitsbedingungen an. Das Verbrechen wird anerkannt. Aber es ist nur das Beispiel eines Verbrechens, daher gibt es auch nur eine Stufe.«
Einer aus der Menge rief: »Ich habe einen Zeh verloren. Ist der vielleicht keine Stufe wert?«
Es gab mehr als genügend verstümmelte und schwarze Finger und Zehen, um den Kommandanten gleich ganz nach oben zu schicken. Dem Juristen entglitt die Sache, er schaffte es nicht, die Regeln ausreichend durchzusetzen und die aufgebrachte Menge zu beruhigen.
Schließlich beendete der Kommandant selbst die Debatte, indem er rief: »Ihr habt recht. Jede einzelne Verletzung, die ihr erlitten habt, ist ein Verbrechen.«
Er nahm eine weitere Stufe. Die Zwischenrufe und Streitereien verebbten, alle hörten wieder zu.
»Tatsächlich habe ich mehr Verbrechen begangen, als es Stufen gibt. Selbst wenn sie bis zum Gipfel des Berges reichen würden, müsste ich sie alle hinaufsteigen.«
Gekränkt, dass sein ausgeklügeltes System der Rechtsprechung durch dieses Geständnis über den Haufen geworfen worden war, fragte ihn der Anwalt: »Sie geben also zu, dass Sie den Tod verdienen?«
Der Kommandant fragte ohne Umschweife zurück: »Nur eines möchte ich wissen: Wenn man einen Schritt nach oben machen kann, warum kann man dann nicht auch wieder einen hinunter machen? Wenn man Schlimmes tut, kann man dann nicht auch Gutes tun? Kann ich nicht versuchen, das wiedergutzumachen, was ich verbrochen habe?«
Er zeigte auf den
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