Kolyma
Menge, die Geschworene und Richter in einem war, erhob sich empörtes Geschrei. Leo warf einen verstohlenen Blick auf seinen Ankläger. Georgi handelte auf eigene Faust. Lasar war in ein Schreiben vertieft, vielleicht eine Liste von Leos Verbrechen.
»Trifft das zu?«, fragte der Anwalt. »Sind Sie ein Tschekist?«
»Früher war ich einer. Ich gehörte zum MGB.«
»Nennt mir seine Verbrechen!«, rief der Anwalt.
Georgi machte den Anfang. »Er hat Lasar denunziert!«
Die Menge johlte. Leo nahm die erste Stufe.
Georgi fuhr fort: »Er hat Lasar geprügelt und seinen Kiefer zerschmettert!«
Leo wurde eine weitere Stufe hochgeführt.
»Er hat Lasars Frau verhaftet!«
Nun stand Leo schon auf der vierten Stufe.
»Er hat Mitglieder aus Lasars Gemeinde verhaftet!«
Jetzt, wo Leo auf der fünften Stufe stand, fiel Georgi nichts mehr ein. Kein anderer im Lager kannte Leo. Keiner konnte ihn weiterer Verbrechen bezichtigen.
»Wir brauchen weitere Beispiele«, erklärte der Anwalt. »Noch sieben.«
Frustriert rief Georgi: »Er ist ein Tschekist!«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Das zählt nicht.«
Nach den Regeln ihres eigenen Schuldsystems wusste niemand genug über Leo, um ihn zu verurteilen. Besser gesagt, niemand außer Leo selbst. Die Gefangenen waren frustriert. Sie vermuteten ganz richtig, dass es bei einem Tschekisten doch noch weitaus mehr Beispiele für seine Verbrechen geben musste, die sie nur nicht kannten. Leo spürte, dass die Regeln ihn nicht schützen würden. Hätte er nicht selbst mitangesehen, wie der Kommandant erschossen worden war, wäre er vielleicht die ganze Treppe hinaufgestiegen und hätte seine Verfehlungen bekannt. Aber eloquenter als der Kommandant war er auch nicht. Sein Leben hing jetzt davon ab, dass die Regeln eingehalten wurden. Sie brauchten noch sieben Beispiele. Und die hatten sie nicht.
Georgi gab sich noch nicht geschlagen. »Wie viele Jahre warst du Tschekist?«, rief er.
Unmittelbar nach seinem Dienst in der Armee war Leo zur Geheimpolizei überstellt worden. Er war fünf Jahre lang ein Tschekist gewesen.
»Fünf Jahre.«
An die versammelten Sträflinge gewandt, fragte Georgi: »Kann man sich nicht vorstellen, dass er mindestens zwei Menschen pro Jahr auf dem Gewissen hat? Ist es so schwer, das bei einem Tschekisten anzunehmen?«
Die Menge war ganz derselben Meinung: zwei Stufen für jedes Jahr. In der Hoffnung, dass er diese neue Regel für ungültig erklären würde, wandte Leo sich an den Anwalt. Doch der zuckte nur die Achseln, und damit war aus dem Vorschlag gültiges Recht geworden. Der Mann befahl Leo, die Treppe vollständig hinaufzusteigen, und verurteilte ihn damit zum Tode.
Leo konnte nicht fassen, dass dies das Ende sein sollte. Er rührte sich nicht.
Jemand schrie: »Hoch mit dir, sonst erschießen wir dich da, wo du stehst!«
Wie betäubt stieg Leo gehorsam die restlichen Stufen hinauf und stellte sich über die von Kugeln durchsiebte Leiche des Kommandanten. Alle möglichen Waffen waren auf ihn gerichtet.
Eine Stimme meldete sich zu Wort. Sie gehörte dem Mann, der ihn hasste, es war die Stimme von Georgi. »Wartet!«
Leo sah, wie Lasar in Georgis Ohr flüsterte. Ganz gegen seine Gewohnheit sprach Georgi die Worte diesmal nicht simultan aus. Als Lasar geendet hatte, sah Georgi ihn fragend an. Lasar bedeutete ihm, seine Worte weiterzugeben.
Georgi wandte sich Leo zu und fragte: »Lebt meine Frau wirklich?«
Georgi nahm ein Blatt Papier aus Lasars Händen, ging damit zu Leo und hielt es ihm hin. Leo beugte sich hinab und erkannte Frajeras Brief. Da er Informationen enthielt, die nur sie wissen konnte, war es der Beweis, dass sie lebte. Timur hatte ihn bei sich gehabt. Offenbar hatten ihm die Wachmänner, bevor sie ihn umgebracht hatten, seine Habseligkeiten abgenommen.
»Der Brief wurde in der Tasche eines Wachmanns gefunden. Du hast also doch nicht gelogen.«
»Nein.«
»Lebt sie noch?«
»Ja.«
Lasar winkte Georgi wieder zu sich und flüsterte ihm ins Ohr. Mit zögerndem Gehorsam verkündete Georgi: »Ich bitte darum, dass man ihn verschont.«
Moskau
Am selben Tag
Wie zwei Straßenkatzen saßen Soja und Malysch nebeneinander auf dem Dach von Wohnblock 424. Soja war die ganze Zeit dicht bei Malysch geblieben, um ihn zu beruhigen, dass sie nicht weglaufen würde. Mehrere anstrengende Kilometer weit waren sie durch die Kanalisation marschiert, hatten Leitern erklommen und sich an mit einer dicken Schleimschicht überzogenen Wänden
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